Fast 20 Jahre ist es her — 2003 war das —, da verkündete Bundeskanzler Gerhard Schröder im Deutschen Bundestag das Ende unseres sozialen Rechtsstaates. Die SPD-Abgeordneten bejubelten seine Rede. Was es mit dem zynisch-menschenverachtenden Geschwafel des Sozialdemokraten Schröder auf sich hatte — „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen fordern“ —, wird im folgenden Beitrag bis in die Gegenwart hinein analysiert.
Manchmal lohnt es sich, einzelnen Begriffen nachzugehen. Der Begriff „Elend“ beziehungsweise sein Begleitwort „Verelendung“ gehören dazu. Genauere Analyse dieser Vokabel — mit Blick auf deren Geschichte wie mit Blick auf die Gegenwart heute — zeigt: Noch selten dürfte ein Begriff so präzise die heutigen Lebensverhältnisse von Millionen Menschen in der Bundesrepublik „auf den Begriff“ gebracht haben wie diese Bezeichnung Elend. Doch konkret:
Elend, das im heutigen Verständnis ein äußerster Begriff für extreme soziale und ökonomische Notlage ist — man lese in den einschlägigen Wörterbüchern nach! —, der Begriff für eine Lebenssituation also, die weit unterhalb der „Armut“ angesiedelt ist, dieses Wort Elend bedeutete seinem sprachgeschichtlichen Ursprungssinn nach „im Ausland, in der Fremde sein“. Es geht zurück auf das althochdeutsche Wortgespann „eli lenti“, was so viel hieß wie: „im fremden Land“ leben zu müssen, „aus dem Frieden der angeborenen Rechtsgenossenschaft ausgeschlossen, verbannt“ zu sein, hier zitiert nach der Kluge-Etymologie.
Doch auch bezogen auf die heutige Bedeutung stellt Elend so etwas wie ein Nichtzuhausesein in der Fremde dar. Denn mit dem Elend heute hat die Regierungspolitik von Schröder und seinen Nachfolgern, der Kanzlerin Angela Merkel sowie der jetzigen Ampelkoalition, in sozialer und ökonomischer Hinsicht ebenfalls so etwas wie „Ausland“ für die Betroffenen geschaffen, ein „Ausland nämlich zuhause“, ein Ausland im eigenen Land.
Hartz IV: das ist nahezu kompletter Ausschluss
Die Mitmenschen in der Bundesrepublik, die heute im Elend leben, leben tatsächlich wie in einer innerstaatlichen Fremde. Sie teilen noch die Sprache mit uns und den Wohnort. Aber das ist auch schon alles, was diese Mitbürgerinnen und Mitbürger mit uns verbindet. „Soziale Teilhabe“ — eine Zentralkategorie des Begriffs „Existenzminimum“ — ist für Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher nicht mehr möglich.
Weder umfassen die Regelsätze von Hartz IV irgendwelche Beiträge für Mitgliedschaft in Parteien, Vereinen oder Gewerkschaften, noch sind für die ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher Reisen und Fahrten zu Verwandten und Freunden erschwinglich und Bewirtung derselben bei sich zuhause oder Geschenke an sie zu deren Geburtstagen und zum Weihnachtsfest. Nicht einmal Portokosten für briefliche Kontakte zu ihren Nächsten sind für die Langzeitarbeitslosen bei der Ermittlung des sogenannten „Regelsatzes“ auch nur annähernd in ausreichendem Maße berücksichtigt worden. Gleiches gilt für die Telefon- oder Mailingkosten.
Mit einem Satz: Hartz-IV, diese furchtbare, verfassungswidrige, menschlichkeitsfeindliche Gesetzgebung, hat rund acht Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger ausgegrenzt aus unserem Gemeinwesen. Sie leben seither buchstäblich außerhalb der Grenzen unserer Gesellschaft.
Ihnen ist nichts mehr übriggeblieben, als bestenfalls am Radiogerät oder Fernseher noch „teilzuhaben“ an unserer Demokratie. Nicht mal die Kosten für das Abo einer Tageszeitung können aus dem Regelsatz des ALG-II aufgebracht werden. Sozial und ökonomisch betrachtet, stellt Hartz-IV einen Totalausschluss aus unserer Gesellschaft dar. Was verfassungsrechtlich bedeutet: Alle Beteiligungsrechte politischer und sozialer Art, die unser Grundgesetz sämtlichen Bürgerinnen und Bürgern unseres Staatwesens garantiert — unabdingbar, für ewig festgehalten im Grundrechtskatalog unserer Verfassung —, alle diese Teilnahmerechte existieren de facto für die Langzeitarbeitslosen in unserem Lande nicht mehr.
Hartz IV hat eine neue Menschenklasse geschaffen: die Menschenklasse deutscher Exilanten im eigenen Land. Wer heute von Menschen im „Elend“ spricht, der spricht dadurch auch dieses unvermeidbar mit aus — gleich, ob ihm dieses bewusst ist oder nicht. ALG-II hat unbescholtene Bürgerinnen und Bürger millionenfach um ihre Rechte gebracht — um ihre „Rechtsgenossenschaft“, wie es in der Ursprungsbedeutung des Wortes „Elend“ beziehungsweise „eli lenti“ noch ausdrücklich mitgemeint war. Hartz-IV hat millionenfach Mitmenschen abgeschoben auf einen fernen elenden Kontinent. Es ist insofern nur noch eine optische Täuschung, dass diese Mitmenschen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wohnen. In Wirklichkeit leben sie längst schon anderswo: in der Mülltonne unserer Demokratie, dort, wo längst auch schon unsere Verfassung gelandet ist.
Die SPD aber — an ihrer Spitze der damalige Obersozialdemokrat Schröder — hat am 14. März 2003 im Bundestag mit ‚Standing Ovations’ dieser Entsorgung unserer Demokratie zugestimmt: der Vertreibung von Millionen von Menschen aus dem Geltungsbereich unseres Grundgesetzes - ins Elend, in unser inneres Ausland.
Aber wie konnte das im Einzelnen vonstattengehen? Mit welchen juristischen Tricks wurde da unter anderem gearbeitet?
Verstoß gegen das Verbot „Zirkelschlussverfahren“
Bei der Beantwortung dieser Fragen konnte man schon ein ganzes Stück weiterkommen, wenn man im Jahre 2010 auf die Website des damaligen Leyen-Ministeriums für Arbeit und Soziales ging und dort plötzlich las, aus der „Referenzgruppe“ seien lediglich alle Haushalte rausgerechnet worden, die nicht „ausschließlich“ ihren Lebensunterhalt aus „staatlichen Transferleistungen“ bestreiten. Wie bitte? — Das heißt doch: Zu einem Teil hatten die Errechner des neuen Regelsatzes auch die anderen Haushalte berücksichtigt, Haushalte, die bereits ihrerseits auf staatliche Gelder angewiesen waren, um überleben zu können. Damit aber hatten die Ermittler der neuen „Grundsicherung“ gleich gegen zwei — spätere — Gebote aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar des Jahres 2010 verstoßen: erstens gegen das sogenannte „Zirkelschlussverbot“ und zweitens gegen die Auflage, dass die Einkommenssituation der Referenzgruppe eindeutig über Sozialhilfeniveau zu liegen habe.
Im Absatz 168 des genannten Urteils vom 9. Februar 2010 heißt es dazu (Fettdruck-Hervorhebungen in allen folgenden Urteils-Zitaten vom Autor):
„…die Wahl des untersten Bevölkerungsquintils (= des untersten Bevölkerungsfünftels) beruhte auf der sachgerechten Erwägung, die Referenzgruppe der Bezieher von geringen Einkommen möglichst breit zu fassen, um statistisch zuverlässige Daten zu verwenden. Darüber hinaus vermeidet die erfolgte Herausnahme von Sozialhilfeempfängern Zirkelschlüsse, die entstünden, wenn man das Verbrauchsverhalten von Hilfeempfängern selbst zur Grundlage der Bedarfsermittlung machen würde.“
Und eindeutiger noch das damit ausgesprochene Zirkelschlussverbot im folgenden Absatz 169 aus dem genannten Urteil:
„Der Gesetzgeber konnte nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vertretbar davon ausgehen, dass die bei der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 zugrunde gelegte Referenzgruppe statistisch zuverlässig über der Sozialhilfeschwelle lag…“
Dieses also ganz unzweideutig die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010: In der Bevölkerungsgruppe, auf die man sich zur Ermittlung des neuen Regelsatzes stützt, dürfen keine einzige Bezieherin und kein einziger Bezieher von staatlichen Transferleistungen vorhanden sein.
Zur Fragwürdigkeit sogenannter „Referenzgruppen“
Nun ist an dieser Stelle ganz ausdrücklich festzuhalten, dass es ein ganz verquerer Gedankengang war — und immer noch ist —, das sogenannte „Existenzminimum“ dadurch eruieren zu wollen, dass man nach Bevölkerungsgruppen Ausschau hält, die „irgendwo“ ganz unten in der Einkommenshierarchie angesiedelt sind und es trotzdem „irgendwie“ hinbekommen, ihre existenzsichernden Bedürfnisse zu befriedigen — was, bitteschön, diese Sicherung existentieller Bedürfnisse, nicht mit einem „menschenwürdigen Existenzminimum“ verwechselt werden darf.
Pointiert gesagt: Man blickte auf den Küchentisch der Armen, um festzustellen, was ausreichende Ernährung ist; man suchte in „Zilles Milljöh“ die Miethöhle hinter dem vierten Hinterhof auf, um herauszufinden, was menschenwürdiges Wohnen ist. Gleichwohl bleibt eindeutig genug, was, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zufolge, unter „Existenzminimum“ zu verstehen ist, und an dieser Stelle soll deswegen auch gleich aufgeräumt werden mit einer überaus populären Legende.
Was versteht das Bundesverfassungsgericht unter „Existenzminimum“?
Oft wurde und wird in den öffentlichen Debatten lediglich zweierlei unter „Existenzminimum“ verstanden — einmal die Sicherung der „physischen Existenz“ und zum anderen die berühmt-berüchtigte „soziokulturelle Teilhabe“. Falsch, wie ein Blick in das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 zeigt! Noch eine dritte Bestimmungsgröße gehört nach höchstrichterlicher Ansicht zum „Existenzminimum“ hinzu. Doch zitieren wir der Reihe nach, und zwar auf der Basis der Aussagen in Absatz 135 des genannten Hartz-IV-Urteils. Demnach zählen zum „Existenzminimum“
die erwähnte Sicherung der „physischen Existenz“, die Möglichkeit also für die Betreffenden, die Kosten für „Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit“ aufbringen zu können, das erwähnte „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“, nebenbei: auch letzteres — die politische Teilhabemöglichkeit von Transferbezieherinnen und —beziehern fällt bei den öffentlichen Diskussionen über das „Existenzminimum“ zumeist unter den Tisch, was man durchaus bemerkenswert finden kann, denn schließlich handelt es sich bei der politischen Teilhabemöglichkeit nicht zuletzt um ein Grundrecht der Menschen in der Bundesrepublik, sowie schließlich drittens die „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“. Hat darüber schon einmal jemand nachgedacht, im Zusammenhang von Hartz-IV, was das konkret zu bedeuten hat, wenn es zum Beispiel um Aufrechterhaltung der Kontakte zu Verwandten und Freunden geht, zu Menschen, die einem nahestehen, aber weit weg wohnen inzwischen, nicht in derselben Stadt also, wie man selbst — sagen wir in Kassel —, sondern beispielsweise in München oder Berlin? War jemals im Regelsatz auch nur ein einigermaßen angemessener Betrag für solche Reisekosten mit eingerechnet worden, oder wurde nunmehr beim ‚neuen’ Regelsatz ab dem 1. Januar 2011 ein solcher Geldbetrag eingestellt? Bei einem Gesamtbetrag für Verkehrskosten pro Monat in der Höhe von 19,20 Euro — der Anfangsbetrag beim alten Regelsatz vom Januar 2005, ein Betrag, der für die meisten Hartz-Vierer nicht mal die Monatskosten für den Nahverkehr abgedeckt hat? Schon hier sei festgestellt: „Selbstverständlich“ blieb — bis auf den heutigen Tag — eine solche Korrektur aus.
Das Verfassungsgerichtsgebot „Einzelfallabsicherung“
Kaum weniger wichtig als diese dreifache Definition des „Existenzminimums“ durch das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 war in diesem Zusammenhang aber noch ein weiterer Punkt: die Verpflichtung des Gesetzgebers durch das höchste Gericht darauf, dieses „Existenzminimum“ für jede Bürgerin und jeden Bürger in der Bundesrepublik sicherzustellen, nicht nur pauschal oder im Durchschnitt. So heißt es im Absatz 137 des Gerichtsurteils, dass dieser „gesamtexistenznotwendige Bedarf“ für „jeden individuellen Grundrechtsträger“ zu sichern sei.
Egal, wo eine® lebt — ob in der Großstadt mit „fußläufig“ erreichbaren fünf Supermärkten gleich um die Ecke oder auf dem Land, wo erst viele Kilometer mit dem Bus kostenpflichtig zurückzulegen sind, um die eigenen Einkäufe tätigen zu können — : Jede und jeder hat Anspruch auf Gewährleistung seines jeweiligen Existenzminimums.
Wie bereits beschrieben: Dass Benennung einer pauschal definierten „Referenzgruppe“ ohne qualitative Überprüfung der jeweiligen konkreten Lebenssituation im Einzelfall der sachangemessene Weg ist, Existenz oder Nichtexistenz des Existenzminimums innerhalb einer ganzen Bevölkerungsgruppe zu verifizieren, das ist mit mehr als nur einem Fragezeichen zu versehen. Entscheidend ist: Nicht einmal die beiden Minimalforderungen des obersten deutschen Gerichts wurden dann bei der Kleinrechnerei des „neuen“ Regelsatzes realisiert: Einschränkungslos jedes Zirkelschlussverfahren zu vermeiden und auf keinen Fall irgendwelche Bezieherinnen und Bezieher von Transferleistungen in die Ermittlung des neuen Regelsatzes mit einzubeziehen. Ein Doppelverstoß gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts!
Wie hätte ein menschenwürdiger Regelsatz auszusehen?
Schicken wir voraus: Alle Beträge des Regelsatzes sind von staatlicher Seite aus bislang nach der sogenannten „Statistikmethode“ ermittelt worden. Das heißt, mithilfe entsprechenden Zahlenmaterials, das vom Statistischen Bundesamt erhoben worden ist, und zwar mithilfe der sogenannten „EVS“, der „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“. Folglich hat man — mehr oder minder repräsentativ — überprüft, wie viel die Bürgerinnen und Bürger pro Monat für welche Waren oder Dienstleistungen auszugeben pflegen und wie viel Einkommen ihnen dafür zur Verfügung steht.
Wichtig dabei: Dieses geschah in der sogenannten „Referenzgruppe“, bei jenen Menschen also, die in der Einkommenshierarchie ganz unten angesiedelt sind. Für den Regelsatz, der ab dem 1. Januar 2005 bis zum „neuen“ Regelsatz ab 1. Januar 2011 gültig war, griff man zu diesem Zweck auf das entsprechende Datenmaterial aus dem untersten „Bevölkerungsquintil“ zurück, auf die untersten 20 Prozent der Bevölkerung mithin, für den „neuen“ Regelsatz nur noch auf die untersten 15 Prozent aller erwachsenen Bundesbürgerinnen und -bürger. Man stieg also noch tiefer hinab in die Einkommenshierarchie. Nach den Armen wurden nun die Ganz-Armen Maßstab der Berechnungen!
Was man aus dieser Darstellung bereits erahnen kann, trifft selbstverständlich auch bei genauerer Analyse zu: Diese sogenannte „Referenzgruppe“ war und ist selbst schon arm, sie ist ganz überwiegend schon angewiesen auf staatliche „Stütze“ — egal, ob verdeckt oder nicht, unabhängig also davon, ob der jeweils betroffene Hilfsbedürftige diese Gelder in Anspruch nahm oder nicht. Zwar behaupten die Vertreter dieser Menschenverelendungspolitik bis zum heutigen Tag das genaue Gegenteil, aber in Wahrheit verhält es sich so: Diese „Referenzgruppe“ bildet mit ihren Einkommensverhältnissen und ihrem Verbrauchsverhalten die Untergrenze des Existenzminimums nicht ab, sondern lebte größtenteils bereits selbst unterhalb des Existenzminimums.
Kurz: Diese sogenannte „Statistikmethode“ ermittelte den Regelsatzbedarf genau nach jenem Zirkelschlussverfahren, das vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 verboten worden war. Die Ermittlung der Regelsatzhöhe mithilfe der „Statistikmethode“ war und ist folglich nicht verfassungskonform, bis heute nicht. Die verfassungswidrige Tatsache, dass Millionen Menschen in der Bundesrepublik unterhalb der Existenzminimumsgrenze leben, wird zur Quelle der Tatsache, dass dieser Zustand sogar noch ausgeweitet und zudem in Gesetze gegossen, also „legalisiert“ worden ist.
Die „Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen — Gegen Einkommensarmut und soziale Abgrenzung“ schrieb dazu unter anderem:
„Es zeigt sich, dass die Regelsatzbemessung nach der EVS von vornherein einen entscheidenden Konstruktionsfehler hat: Wenn man 25 Jahre lang eine Massenarbeitslosigkeit von mehr als 4 Millionen nicht bekämpft, sondern stattdessen den Erwerbslosen systematisch Jahr für Jahr die Leistungen kürzt, wenn man gleichzeitig einen Niedriglohnsektor schafft und mit Hartz IV systematisch ausweitet, wenn man in dieser Zeit an einem völlig überholten Schulsystem festhält, das systematisch Bildungschancen nach der sozialen Herkunft verteilt, wenn Kinder kaum eine Chance haben, diesen Teufelskreis sozial vererbter Ausgrenzung zu durchbrechen — wenn man also ein Vierteljahrhundert lang die Gesellschaft systematisch sozial, kulturell und politisch spaltet und eine wachsende Armutsbevölkerung produziert — dann kann die Bemessung des gesellschaftlichen Existenzminimums am Konsumverhalten dieser Armutsbevölkerung zu nichts anderem führen als zu weiterer Verarmung, weiterer Mangelernährung und weiterer Ausgrenzung.
Das bedeutet: Wenn die untersten Schichten der Gesellschaft so verarmt sind, dass sie sich kein Obst und keine Bücher mehr leisten können, dann folgt nach diesem Modell daraus, dass Obst und Bücher nicht zum Existenzminimum gehören. Diese politische Willkür bei der Berechnung des Existenzminimums können und wollen wir uns nicht länger gefallen lassen.“
Ergänzend: Es verwundert daher nicht — dieser merkwürdigen Logik der „Statistikmethode“ wegen —, dass „konsequenterweise“ beim alten wie beim „neuen“ Regelsatz der Warenkorb Nummer 11 — „Bildung“ nämlich — überhaupt nicht für die Ermittlung dieser Hilfsbeträge berücksichtigt worden ist, und dieses, obwohl wieder und wieder, gerade auch von den Hartz-IV-Apologeten, bei den diversen Talkshows die Bedeutsamkeit der „Bildung“ beschworen wurde, um herauskommen zu können aus den Elendsregionen von Hartz IV.
Erst später kam es bei diesem Fehlbedarf zu einer lachhaften Korrektur: Seit einigen Jahren existiert im Regelsatz ein Geldbetrag, der für „Bildung“ eingestellt worden ist. Er beläuft sich auf sage und schreibe ... 1,62 Euro! Pro Monat, wohlgemerkt! Heißt: Wer bei einer VHS für 60,- Euro einen Computerkurs belegen will, muss drei Jahre lang warten, bis er sich diese Weiterbildung leisten kann! Anderes an „Bildung“ entfällt bis dahin „selbstverständlich“ zur Gänze!
Gleichwohl stellt das zitierte Statement der Betroffenen nur eine parteiische Überreaktion dar, behauptet diese „Arbeitsgemeinschaft“ etwas, das mit den Fakten nicht übereinstimmt?
Nun, mit deutlichem Zahlenmaterial hat das regierungsnahe „Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)“ diese Analyse bestätigt. Hier ein Auszug aus seiner Expertise, erstellt im Jahre 2008:
„Jeweils 6 bis 8 Prozent der ALG-II-Bezieher berichten, dass sie sich keine warme Mahlzeit pro Tag leisten können, dass die Wände in ihren Wohnungen feucht sind, dass sie Probleme mit der pünktlichen Bezahlung der Nebenkosten haben oder dass sie rezeptfreie Medikamente nicht bezahlen können. Sogar 14 Prozent verfügen über nicht ausreichend Zimmer in der Wohnung und knapp 17 Prozent der Leistungsempfänger können sich keine angemessene Winterkleidung leisten. (...)
Blickt man allerdings über den Bereich der elementaren Bedürfnisse hinaus, zeigen sich größere Versorgungsdefizite. Am niedrigsten fällt das Versorgungsniveau der Leistungsempfänger bei den finanziellen Möglichkeiten und der sozialen Teilhabe aus (...). Etwa drei Viertel der ALG-II-Empfänger können es sich nicht leisten, alte aber funktionstüchtige Möbel zu ersetzen oder einmal im Monat ins Restaurant zu gehen. Und jeweils um die vier von fünf Leistungsempfängern geben an, dass sie sich keinen jährlichen Urlaub leisten oder keinen festen Geldbetrag pro Monat sparen können. (...) Ähnliches gilt für Kino- oder Konzertbesuche oder für das Einladen von Freunden.“
Noch einmal sei an die entsprechenden Aussagen des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 erinnert:
„Der Gesetzgeber bleibt (...) verpflichtet, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter dem Niveau der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch und Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch inklusive der Leistungen für Unterkunft und Heizung liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden.“
Kurz: Das Bundesverfassungsgericht machte seine „Genehmigung“ der „Statistikmethode“ von der Tatsache abhängig, dass die auszuwertende „Referenzgruppe“ mit ihrem Einkommen, so wörtlich, „zuverlässig über der Sozialhilfeschwelle“ liegt.
Um es deutlich zu sagen: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hatte diese Vorgabe des obersten deutschen Gerichtes schlicht ignoriert, damals im ablaufenden Jahr 2010, und damit die Datenbasis zur Ermittlung der Regelleistung nachweisbar verfälscht. Und dieses angesichts von fast 6 Millionen verdeckten Armen in der Bundesrepublik. Die Regelleistung, die dann für 2011 festgelegt worden ist — 368 Euro plus 8 Euro für Warmwasserkosten — , lag deswegen auch unterhalb aller Berechnungen, die von anderen Institutionen, Organisationen und Personen vorgenommen worden sind. Und diese Tatsache gilt bis zum heutigen Tag. Aber konkret: Alle Zahlenangaben im Folgenden gelten für das Jahr 2010! Sie wären für dies Jahr 2022 mit einem Aufschlag von mindestens 30 Prozent zu versehen — die derzeitigen Inflationsraten nicht einmal miteingerechnet.
Alternative Vorschläge zur Erhöhung des Regelsatzes
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Irene Becker ermittelte zum Beispiel im Auftrag der Diakonie Mitteldeutschland für 2008 einen Mindestregelsatz von 480,45 Euro; der Hans-Böckler-Stiftung zufolge hätte der Regelsatz bereits 2008 521,- Euro betragen müssen; Katja Kipping, Bundestagsmitglied der Partei Die Linke, errechnete für 2010 einen Mindestregelsatz von 529,- Euro pro Monat; und Rüdiger Böker, nichts weniger als der Sachverständige für das Bundesverfassungsgericht für dessen Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010, bezifferte den monatlichen Regelsatznettobedarf mit 564,90 Euro.
Wichtig dabei: Alle diese Expertinnen und Experten gingen noch vom EVS-Modell aus, alle hatten den eigenen Berechnungen auch das unterste Bevölkerungsfünftel als Referenzgruppe zugrundegelegt. — Zu Recht wurde deshalb die Expertise von Irene Becker von deren Auftraggeberin, der Diakonie Brandenburg, sogar kritisiert:
„In dieser Variante ‚Regelleistungsberechnung nach dem sogenannten Statistikmodell’ setzt sich die von den Landesverbänden der Diakonie in Auftrag gegebene Studie über fachliche Einwände an der Methodik partiell hinweg und übernimmt viele Abzüge, wie sie im Gesetzentwurf zu finden sind.(...) Solche Abzüge sind (...) methodisch fragwürdig, weil sie auch den Regelsatz jener mindern, die sich abgezogene Ausgaben ohnehin nie leisten konnten, zum Beispiel Pauschalreisen. Einzelne Abzüge dieser Berechnungsvariante entsprechen auch nicht den ethischen Vorstellungen der Diakonie. Sie zeigen aber, dass sich der Regelsatz nur mit ethisch fragwürdigen Wertentscheidungen weiter minimieren lässt. So ist im Grundsatz unvertretbar, dass Leistungsberechtigte beim Eintreten des Leistungsfalles ihre Haustiere abgeben oder in einer Wohnung ohne Grünpflanzen leben sollen. Solche normativen Vorgaben mindern nicht nur die Höhe des errechneten Regelsatzes, sondern müssen von den Hilfeempfängern auch als Demütigung empfunden werden.“
Und Johannes Münder, der für den Deutschen Anwaltsverein eine Expertise zum „neuen“ Regelsatz verfertigt hatte, stellte fest, dass die Bundesregierung für die von ihr vorgenommenen Abschläge beziehungsweise Nichtanerkennung von Ausgabepositionen keine verfassungskonformen Begründungen geliefert hat. Konkret:
Warum soll es Hilfebedürftigen verwehrt sein, Kleidung chemisch reinigen zu lassen, Schnittblumen, für Besuche zum Beispiel, zu kaufen oder Zimmerpflanzen besitzen zu dürfen? Wieso stellen Haustiere, Hausrats- und Haftpflichtversicherungen Luxusansprüche dar — gleiches gälte, nebenbei, auch für Rechtsschutzversicherungen, auf die Hartz-IV-Betroffene dringendst angewiesen wären!
Weshalb sind medizinische Zuzahlungen inklusive Praxisgebühr nicht regelsatzrelevant? Und wieso hat man mittlerweile die Geldmittel für alkoholhaltige Getränke vollständig abgeschafft — angesichts der Tatsache, dass Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher doch ‚eigentlich‘ in der menschenwürdigen Lage bleiben sollten, Gäste bei sich bewirten zu können und sie nicht gleich mithilfe dieser Schwarzen Pädagogik zu Abstinenzlern erziehen zu müssen?
Und wie sieht es mit der „politischen Teilhabe“ aus?
Erinnern wir uns: Sogar das Bundesverfassungsgericht meinte in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 — siehe Randnummer 135! — , dass Hartz-IV-Betroffene nur Anspruch hätten auf ein „Mindestmaß“ an politischer Teilhabe — dieses mit ausdrücklicher Berufung auf das Grundgesetz in der vorangegangenen Randnummer 134. Zitieren wir hier also endlich diese Randnummer 135:
„b) Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (vgl. BVerfGE 120, 125, 155 f.), als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen (...).“
Sieht unser Grundgesetz eine solche Zweiklassengesellschaft in puncto der Möglichkeit „politischer Teilhabe“ eigentlich vor, oder schließt unser Grundgesetz diese Unterprivilegierung einer ganzen, einer verelendeten, Bevölkerungsgruppe nicht im Gegenteil ohne jede Einschränkung aus? — Nun, wer auf den Gleichheitsgrundsatz unseres Grundgesetzes sieht, auf den Artikel 3, weiß selbstverständlich Bescheid. Genau das, was ‚unser‘ Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 beschlossen hat, steht im diametralen Gegensatz zur Grundaussage unserer Verfassung zu diesem Punkt. Die Möglichkeit der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik, Einfluss nehmen zu können auf die Politik in unserem Land, ist vom Bundesverfassungsgericht abhängig gemacht worden davon, wie viel Geld die Menschen in ihrem Portemonnaie haben. Heißt also konkret: Wenn es in unserem Grundgesetz heißt — in Artikel 20, Absatz 1 —, „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, dann ist ganz ausdrücklich, so das Bundesverfassungsgericht, der ärmste Teil unserer Bevölkerung nicht mehr mitgemeint!
Was das aber für reale Folgen hat, das können wir in diesem Falle sogar Wikipedia entnehmen, dem Artikel dort zur „Armut in der Bundesrepublik“. Dort wird eine kleine, aber überaus bedeutsame, Statistik veröffentlicht, die sehr deutlich wiederzugeben vermag, wie abgehängt inzwischen die Hartz-IV-Betroffenen auch in politischer Hinsicht hier bei uns leben. Zunächst die Statistik:
Natürlich, diese Beteiligungszahlen fallen insgesamt sehr niedrig aus — was, nebenbei, ohnehin nicht für eine funktionierende, lebendige, für eine echte Demokratie in Deutschland spricht. Aber der Vergleich der Zahlen offenbart dennoch eine Diskrepanz, die keine Demokratie, so sie eine ist oder beansprucht, noch eine zu sein, hinnehmen darf. In allen vier Varianten der politischen Teilhabe, die oben in der Statistik aufgeführt sind, wurde für die Armen und Verelendeten in der Bundesrepublik keine gleiche und gleichberechtigte Repräsentanz mehr festgestellt:
„Personen über der Armutsrisikogrenze“ sind doppelt so oft Mitglied einer politischen Partei als die Verarmten in unserer Gesellschaft. „Personen über der Armutsrisikogrenze“ sind fast dreimal so oft Mitglied einer Gewerkschaft als die eh schon Arbeitslosen oder Ausgegrenzten. „Personen über der Armutsgrenze“ beteiligen sich mehr als doppelt so oft an Unterschriftenaktionen wie die Menschen, die unterhalb dieser Grenze zu existieren haben. Und besonders auffällig und dramatisch zugleich: mehr als fünfmal so häufig nehmen die „Personen über der Armutsgrenze“ an Demonstrationen teil als jene Menschen, die ich bereits im Anfangsteil als die „Inlands-Exilierten“ bezeichnet habe. Letzeres aber bedeutet:
Ausgerechnet jene Menschen, die eigentlich mehr als genügend Anlass hätten, gegen die Verhältnisse in der Bundesrepublik zu demonstrieren, scheinen im Gegensatz zu den privilegierteren Bundesbürgern und Bundesbürgerinnen inzwischen völlig in Lethargie und Apathie verfallen zu sein — ein Befund, der sich bestätigen würde, wenn man auch Wahlbeteiligungsziffern in sogenannten Problemzonen der Kommunen heranziehen würde:
Überall dort, wo das Elend Einzug gehalten hat, bleiben unsere verelendeten Mitbürgerinnen und -bürger mit deutlichster Signifikanz und Überrepräsentanz den Wahlurnen fern. Weil die Demokratie diesen Menschen den Rücken gekehrt hat, haben diese Menschen längst auch schon unserer Demokratie den Rücken gekehrt — so sie noch eine ist, diese unsere Demokratie.
Fazit
Was am Anfang schon betont worden ist — Verelendete leben subjektiv wie objektiv eher in einem „inneren Ausland“ —, das belegt auch aufs traurigste dieses abschließende Zahlenmaterial. Das Rund-80-Millionen-Volk der Bundesrepublik hat mittlerweile um acht Millionen Menschen — also rund zehn Prozent — in irgendeinem gesellschaftlichen Jenseits entsorgt. Und leider: Viele dieser betroffenen Menschen verhalten sich inzwischen auch so.
Man kann an dieser Stelle nur vermuten, wie viel Resignation und Hoffnungslosigkeit, wie viel Verzweiflung sogar und Depression hinter diesen Zahlen steckt. Aber das ist — bis in sehr deutlich erhöhte Erkrankungszahlen und in ein verfrühtes Versterben hinein — ein noch viel schlimmeres Kapitel. Dazu vielleicht demnächst einiges mehr!
Heute jedoch vergessen wir vor allem das eine nicht:
Es war eine bejubelte SPD-Rede, die am Anfang dieses gesamten Elends für Millionen von Menschen in der Bundesrepublik stand!