Heute, liebe Lesende, möchte ich Sie einmal an die Grenzen dessen führen, was man als "Letzten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis" bezeichnen kann. Dieses (bebilderte und daher recht übersichtliche) Beispiel [Quelle / aus: Tracing the evolutionary origins of insect renal function (PDF)] stellt mehrere Insektenarten gegenüber, bei denen mit einer neu entwickelten Methode spezifische Neurotransmitter untersucht wurden. Neurotransmitter sind chemische Substanzen, die eine Information zwischen Zellen übertragen und zwar spezifisch, was bedeutet: Sie sind nur bei diesem definierten Prozess wirksam.
In der Arbeit dieser Gruppe von Wissenschaftlern wird herausgestellt, wie sich die Ausscheidungsfunktion der verschiedenen Insektenarten unterscheidet, wie sie im Laufe der Evolution gewandelt wurde und von einigen Arten wieder aufgegeben ist. Es soll nicht auf Einzelheiten näher eingegangen werden, sondern lediglich gezeigt werden, welche Tiefe in einigen Wissenschaftszweigen erreicht wurde - die schiere Fülle der in den letzten Jahrzehnten erforschten Mechanismen der belebten Umwelt ist überwältigend.
Dieses Beispiel bietet zugleich die Gelegenheit Ihnen zu erklären wie sehr sich das Wissen in dieser Zeitspanne verändert hat. Als ich 1970 mit dem Biologiestudium begann gab es das Fach "Biochemie" nur als Teilgebiet der Pflanzen- und Tierphysiologie. Erste Ansätze die Struktur der Erbinformation, und der von ihr gesteuerten Stoffwechselprozesse, vertieft zu beschreiben war zu dieser Zeit ein Spezialgebiet, auf dem sich nur wenige Wissenschaftler auskannten und eine noch kleine Zahl von ihnen aktiv Forschung betrieben.
Watson und Crick hatten den Anstoß zu einer völlig neuen Forschungsrichtung gegeben, als sie 1953 die Struktur der Doppelhelix beschrieben, die alle nötigen Informationen für den Aufbau von lebenden Wesen auf unserem Planeten beinhaltet.
Das war allerdings zu meiner Studienzeit (1970 -'77) noch nicht Gegenstand der Ausbildung von Biologen.
Um den Riesensprung vorwärts besser zu beschreiben möchte ich eine Analogie aus dem täglichen Leben wählen und zu verdeutlichen, welchen enormen Fortschritt die hier vorgestellte Untersuchung bedeutet:
Stellen Sie sich die Signalgebung der Indianer mit Rauchzeichen als Beginn der Informationstechnologie vor - und dann stellen Sie dem die Technik eines Mobiltelefones der neueren Generation gegenüber! Von einer Decke, die den Rauch in einzelne Wolken teilte, zu Miniaturschaltkreisen, die aus so kleinen Bauelementen bestehen, dass man sie ohne technische Unterstützung nicht mehr erkennen kann.
Sollten Sie nun nach dem Nutzen solcher Erkenntnisse fragen - eine oft gestellte Frage, weil Forschung natürlich Geld kostet, und das muss irgendwoher kommen - nur soviel:
Wenn man an niederen Tieren Erkenntnisse gewonnen hat verfeinerte man so die Methoden solche Ergebnisse zu erreichen. Das "Werkzeug" um diese Forschung zu betreiben wird also erprobt, und steht dann für Untersuchungen auch an höheren Organismen zur Verfügung.
[Wobei ich noch anmerken will, dass es bei der Forschung stets zuerst um einen Erkenntnisgewinn geht - die Frage nach dem Nutzen stellen Menschen, denen die Freude an reiner "Erkenntnis", also letztlich dem Gewinn an Wissen, durch das kapitalistische System 'aberzogen' worden ist.]
Bildtext:[Phylogenetic distribution of the two-cell-type model for insect renal function. Consensus insect phylogeny of the insect species used in our study with superimposed character matrix. A full green circle denotes apositive, while a full red circle indicates a negative, for each category for each species. By contrast, a half green or red circle indicates that, for at least one member of that insect group, a positive or negative has been experimentally confirmed. A grey circle implies that data is not available. A coloured triangle indicates a key event in the evolution of insect renal function and control:
Green triangle, SCs arose; blue triangle, SCs adopted kinin signalling; purple triangle, kinin-signalling secondary lost. The phylogenetic relationships and error bars reflecting 95% confidence intervals of the estimated divergence times for the branching nodes were adopted from refs 32,46,63,64.]
Übersetzung des *abstracts*:
Verfolgung der evolutionären Ursprünge der Nierenfunktion bei Insekten
Kenneth A. Halberg 1,2, Selim Terhzaz 1, Pablo Cabrero 1, Shireen A. Davies 1 und Julian A.T. Dow 1
Das Wissen über Neuropeptidrezeptorsysteme ist ein wesentlicher Bestandteil des Verständnisses der Tierphysiologie.
Es ist jedoch problematisch, einen allgemeinen Einblick in die Neuropeptidsignalisierung in einer Gruppe zu erhalten, die so biologisch vielfältig ist wie die der Insekten. Hier wenden wir fluoreszierende Analoga von drei wichtigen Insekten-Neuropeptiden an, um die Architektur des Nierengewebes über systematisch ausgewählte Vertreter der wichtigsten Insektenordnungen hinweg abzubilden und einen beispiellosen Überblick über die Nierenfunktion und -kontrolle von Insekten zu erhalten.
Bei endopterygoten Insekten wie Drosophila empfangen zwei unterschiedliche transportierende Zelltypen separate Neuropeptidsignale, während bei den angestammten Exopterygoten ein einzelner allgemeiner Zelltyp alle Signale vermittelt.
Interessanterweise haben die Coleoptera (Käfer) der größten Insektenordnung einen einzigartigen Ansatz entwickelt, bei dem nur ein kleiner Teil der Zellen Ziele für die Neuropeptidwirkung sind. Unsere Ergebnisse zeigen nicht nur einen universellen Nutzen dieser Technologie, sondern zeigen auch eine allgemeine Signalübertragung durch die evolutionär alten Neuropeptidfamilien, sowie eine klare funktionelle Trennung der Zelltypen, die das Signal vermitteln.
Originaltext:
Tracing the evolutionary origins of insect renal function
Kenneth A. Halberg 1,2 , Selim Terhzaz 1 , Pablo Cabrero 1 , Shireen A. Davies 1 & Julian A.T. Dow 1
Knowledge on neuropeptide receptor systems is integral to understanding animal physiology.
Yet, obtaining general insight into neuropeptide signalling in a clade as biodiverse as the insects is problematic. Here we apply fluorescent analogues of three key insect neuropeptides to map renal tissue architecture across systematically chosen representatives of the major insect Orders, to provide an unprecedented overview of insect renal function and control.
In endopterygote insects, such as Drosophila, two distinct transporting cell types receive separate neuropeptide signals, whereas in the ancestral exopterygotes, a single, general cell type mediates all signals.
Intriguingly, the largest insect Order Coleoptera (beetles) has evolved a unique approach, in which only a small fraction of cells are targets for neuropeptide action. In addition to demonstrating a universal utility of this technology, our results reveal not only a generality of signalling by the evolutionarily ancient neuropeptide families but also a clear functional separation of the types of cells that mediate the signal.