Vor Jahren ....

- als ich noch zur Schu­le ging - ver­dien­te ich mir ein Zubrot durch Nach­hil­fe­stun­den. Gutes Geld, ich bekam fast soviel wie ein Eng­lisch­leh­rer. Man schätz­te, so ver­mu­te ich, die Tat­sa­che, daß ich ein Jahr in USA ver­bracht hat­te und flie­ßend sprach. Ein "sehr gut" in Eng­lisch und eine Emp­feh­lung des Eng­lisch­leh­rers mögen auch dazu bei­getra­gen haben.

In den letz­ten zwei Jah­ren vor dem Abitur bekam ich DM 50,- Taschen­geld, ein ansehn­li­cher Betrag Mit­te der 60'er Jah­re. Durch besag­te Nach­hil­fe­tä­tig­keit konn­te ich den Betrag auf­stocken - und war so finan­zi­ell recht gut gestellt. Das traf auch auf mei­ne Fami­lie zu, wir leb­ten zu die­ser Zeit in einem geräu­mi­gen Haus mit Damen- und Her­ren­zim­mer neben einem groß­zü­gig geschnit­te­nen Wohn­zim­mer, an das das Eßzim­mer angrenz­te. Ein offe­ner Kamin zwi­schen Wohn- und Her­ren­zim­mer war - für dama­li­ge Zei­ten - ein Luxus, den nicht Vie­le hatten.

In den Feri­en aller­dings waren kei­ne Nach­hil­fe­stun­den mög­lich und ich hat­te mich bei der damals noch exi­stie­ren­den "Syl­ter Insel­bahn" als Schaff­ner bewor­ben. Ich wur­de ange­stellt und begann eine Zweit­kar­rie­re als "Insel­bahn­schaff­ner".

Ich leb­te also in dem Bewußt­sein, es man­ge­le mir - und mei­ner Fami­lie - an Nichts.

Bis, ja, bis ich eines Tages in mei­ner Schaff­ner­rol­le einem wun­der­schö­nen Mäd­chen einen Fahr­schein von Wester­land nach Hör­num verkaufte ....

Nun muß man wis­sen: Wer mor­gens nach Hör­num fuhr hat­te meist eine Über­fahrt nach Hel­go­land gebucht - und muß­te abends mit der Insel­bahn wie­der zurück. Der Fahr­plan des Zuges war mit dem Ein­tref­fen der Fäh­re abgestimmt.

Die Ange­be­te­te - man konn­te nicht anders, als die­ses zar­te, lie­be Geschöpf "anbe­ten" - hat­te wäh­rend der Fahrt nach Hör­num unmiß­ver­ständ­li­che Signa­le ver­sandt, daß sie mich, den "Schaff­ner" offen­sicht­lich ganz pas­sa­bel fand .... aber ich brach­te es, stof­fe­lig und zugleich schüch­tern, nicht über's Herz sie direkt anzu­spre­chen. Nun woll­te ich ihr aber andeu­ten, daß ich am Abend wie­der da sein wür­de, und als sich die Gele­gen­heit ergab, teil­te ich dies einem ande­ren Rei­sen­den so laut mit, daß sie es hören mußte.

Den gan­zen Tag lang schweb­te ich irgend­wie auf Wol­ken ob der Aus­sicht, sie am Abend wie­der zu sehen. Dann woll­te ich mir ein Herz neh­men und sie anspre­chen. Ich leg­te mir tau­sen­de von For­mu­lie­run­gen zuf­recht, ver­warf sie eben­so oft, dach­te mir neue, bes­se­re aus. Kurz: Ich schien gewapp­net und vorbereitet.

Der Abend kam, sie kam mit der Fäh­re zurück, stieg in mei­nen Wagen ein, lächel­te mir zu. Ich war stumm wie ein Fisch, unfä­hig auch nur ein Wort her­aus­zu­brin­gen .... mit schwit­zi­gen Hän­den und schwir­ren­den Gedan­ken beob­ach­te­te ich sie und konn­te mir ein­fach kein Herz fas­sen, war wie gelähmt.

Wir näher­ten uns Wester­land. Da war sie ein­ge­stie­gen - da wür­de sie auch wie­der aus­stei­gen. Und ich Esel hät­te spä­te­stens dann die Chan­ce mei­nes Lebens verpaßt ....

"Wester­land Haupt­bahn­hof, umstei­gen zur Bun­des­bahn. Rei­sen­de nach List blei­ben bit­te in die­sem Zug, der nach kur­zem Auf­ent­halt nach List wei­ter­fah­ren wird!" hör­te ich mich sagen - und war doch sehr erstaunt zu bemer­ken, daß die jun­ge Dame sit­zen blieb. Sie mach­te kei­ne Anstal­ten, die Insel­bahn zu verlassen.

Gal­gen­frist, dach­te ich. Sie mag dich offen­sicht­lich, sonst wäre sie schon nicht mehr hier, schloß sich an. Ja, da saß sie nun in dem leer gewor­de­nen Wagen. Als in Kam­pen die letz­ten Fahr­gä­ste den Zug ver­las­sen hat­ten waren wir allein.

"Du hast ver­ges­sen mir einen Fahr­schein nach List zu ver­kau­fen", sag­te sie, als der Zug wie­der anfuhr. "Wirst Du kei­ne Schwie­rig­kei­ten haben, wenn man merkt, daß du Schwarz­fah­rer dul­dest?" Ich war platt, aber gleich­zei­tig hör­te ich mich sagen "Ach, gute Freun­de dür­fen schon 'mal gra­tis mitfahren!"

"So", ant­wor­te­te sie schel­misch, "wir sind also gute Freun­de. Davon habe ich bis­her nichts gemerkt und erfah­ren hät­te ich es wohl nie, wenn ich nicht bis zur End­sta­ti­on mit­ge­fah­ren wäre." Das Eis war gebro­chen, jetzt trau­te ich mich zu spre­chen. Und es wur­de ein lan­ges Gespräch ....

Wir hat­ten mitt­ler­wei­le die Bahn ver­las­sen und saßen auf einer Bank am Bahn­hof in List. Ich hat­te kurz unter­bre­chen müs­sen, denn es gehör­te zu mei­nen Schaff­ner­pflich­ten, beim Ran­gie­ren der Lok zu hel­fen. "Na", sag­te der Kol­le­ge Lok­füh­rer zu mir, "unser Hilfs­schaff­ner auf Frei­ers­fü­ßen? Dann nimm Dir 'mal Zeit, kannst ja mit dem letz­ten Zug zurück­fah­ren." Ich glau­be ich war nie wie­der einem Men­schen so dank­bar wie dem Zug­füh­rer in die­sem Augenblick.

Wir - die elfen­glei­che Ange­be­te­te und ich - saßen noch lan­ge und spra­chen: Über uns, unse­re Fami­li­en, unse­re Freun­de, unse­re Inter­es­sen - eben über alle Din­ge, die in sol­cher Situa­ti­on wis­sens­wert erschei­nen .... bis dann der letz­te Zug nach Wester­land ging und wir mit­fah­ren muß­ten. Mitt­ler­wei­le hat­te ich erfah­ren, daß es ihr letz­ter Tag auf Sylt war. Sie muß­te am näch­sten Tag mit ihren Eltern zurück nach Ham­burg. Ich hat­te ihre Adres­se und ihr Ver­spre­chen, sich mit mir in Ham­burg zu tref­fen. Ich soll­te nur bei ihr anru­fen, das gin­ge dann klar.

So ein­fach, wie das geklun­gen hat­te, war es dann aber doch nicht. Ich rief an und eine Haus­da­me war am Appa­rat: "Das gnä­di­ge Fräu­lein ist jetzt nicht zu spre­chen, sie übt am Flü­gel", ein ande­res Mal hieß es "Das gnä­di­ge Fräu­lein hat pri­va­te Spa­nisch­stun­den und kann jetzt nicht mit ihnen spre­chen" und so wei­ter .... aber ich hat­te ver­spro­chen mich zu mel­den - sie hat­te ver­spro­chen mich zu tref­fen, da woll­te ich mich von einer Haus­da­me nicht so abfer­ti­gen las­sen. Hart­näckig­keit zahlt sich manch­mal aus, nach dem x-ten Anruf hat­te ich dann die Haus­da­me so zer­mürbt, daß sie es wohl für bes­ser hielt, "das gnä­di­ge Fräu­lein" ans Tele­fon zu holen.

Ich ver­gaß vor Freu­de, daß es end­lich geklappt hat­te, mich über die Abwim­me­lei zu beschwe­ren, war froh, end­lich mit ihr spre­chen zu kön­nen. Wir ver­ab­re­de­ten uns für die fol­gen­de Woche, ich soll­te sie zu Hau­se abholen.

Der Rest der Geschich­te ist kurz. Wie am Anfang berich­tet kom­me ich ja nicht gera­de aus ärm­lich­sten Ver­hält­nis­sen. Aber das Haus, in dem die schö­ne Ham­bur­ge­rin wohn­te war schon eher als "sehr geräu­mi­ge Vil­la" zu bezeich­nen. Ich wur­de ins Haus "ein­ge­las­sen". Ich wur­de von der Mut­ter emp­fan­gen. Ich bekam sehr deut­lich mit­ge­teilt, daß man auf kei­ne Fall dul­den wer­de, daß sich "unse­re Toch­ter" mit mir tref­fen werde ....

Als ich von der Türe weg über Mar­mor­kies zum Tor des Anwe­sens stapf­te und mich umblick­te mei­ne ich hin­ter einem Vor­hang eine Bewe­gung gese­hen zu haben. Aber viel­leicht war auch das eine Illusion ....

PS
Ich hof­fe für die - ver­geb­lich - Ange­be­te­te, daß sie, trotz aller Wid­rig­kei­ten, ein glück­li­ches Leben hat(-te) ....

Kommentare

  1. Sind Sie sicher, dass die­se Geschich­te aus dem 20. Jahr­hun­dert stammt? Und wenn dem so ist, dann fra­ge ich mich aller­dings, ob Ihre Ange­be­te­te das tat­säch­lich begrif­fen hat(te). Sie wären sicher­lich nicht die ersten gewe­sen, die durch's geöff­ne­te Fen­ster in die finan­zi­ell nicht mehr ganz so beque­me Frei­heit geflo­hen wären.

    1. Ja, ich bin sicher .... daß die Geschich­te aus dem 20.Jhdt. stammt. 1965.
      "Durch­bren­nen" - so roman­tisch es auch gewe­sen wäre - war schon des­we­gen nicht mög­lich, weil ich noch ca. 1,5 Jah­re bis zum Abitur hat­te .... ich den­ke, sie hat sich dem Wil­len der Fami­lie gebeugt, weil wir uns ja zu die­sem Zeit­punkt noch nicht so gut kann­ten .... und wer kauft schon gern die Kat­ze im Sack?

    2. Na, Sie sind mir ja ein wirk­lich roman­ti­scher Held. Einer, der vor dem Sprung aus dem Fen­ster noch über­legt, wie die neu­en Kon­to­aus­zü­ge sor­tiert und die Akten­ord­ner beschrif­tet wer­den soll­ten? Einer, der die Haft­pflicht­ver­si­che­rung auf Aus­schluss­klau­seln gegen Absturz auf­grund von Hor­mon­stau über­prüft und die Aller­lieb­ste danach bewer­tet, ob sie denn ihre Zahn­pa­sta-Tube regel­mä­ssig ordent­lich aus­drückt? Ich glau­be, das Kätz­chen springt da lie­ber vor­her aus dem Fen­ster als noch Mal in den Sack.

    3. Wie kom­men Sie nur .... auf all die­se lästi­gen Klein­lich­kei­ten? Spricht da bit­te­re Erfah­rung mit einem Galan der kei­ner war?
      Nein, ich den­ke so nicht. Aber ich bin auch - war auch - nie blind für die Not­wen­dig­kei­ten der Wirklichkeit!
      Zwei mit­tel­lo­se Men­schen ohne Abschluß und Perspektive: 
      Sie kön­nen mir nicht weis­ma­chen, daß sie so etwas gut­hei­ßen würden ....

    4. Lie­ber Herr WVS, bit­ter ist immer auch ein klein wenig süß. 
      Mit­tel­los? Das Leben ist eine Ach­ter­bahn. Was ich nicht "gut­hei­ße", ist die Angst vor einem mög­li­chen Absturz.

    5. In gekonn­ter .... Manier wei­chen Sie auf neue Schau­plät­ze aus, mei­ne Lie­be, natür­lich ist das Leben eine Ach­ter­bahn, wer wür­de da wider­spre­chen - und nein, heu­te, mit dem Wis­sen und der Erfah­rung von Jah­ren habe ich auch kei­ne Angst mehr vor "Abstieg"!
      Zu Gra­be getra­gen wer­den wir doch ALLE ohne irdi­sche Besitztümer ....

    6. In gekonn­ter Manier? Viel­leicht ver­ste­hen Sie ein­fach nur nicht, was ich ver­such­te, auf den Punkt zu brin­gen. Herr WVS, in mei­nen Ohren klingt das, was SIE hier schrei­ben, nun ein wenig bit­ter. Es wäre sehr schade.

    7. Nein, "bit­ter" wäre .... das fal­sche Signal. Eher "abge­klärt".
      Und:
      Ja, es könn­te stim­men, daß ich manch­mal nicht begrei­fe, wor­auf Sie hin­aus wol­len .... ich den­ke und schrei­be eher gerad­li­nig, ohne Meta­phern, wenn Sie wol­len auch "schlicht" ....

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