Wie Frau G verschwand

Herr W stand von sei­nem Com­pu­ter­ses­sel auf und schau­te sich neben­an im Wohn­zim­mer nach Frau G um. Die hat­te auf eine, sei­ne, in den Raum gewor­fe­ne Anmer­kung nicht geant­wor­tet. Was nicht an sich beun­ru­hi­gend war. Nicht immer ant­wor­te­te sie auf sei­ne Zwi­schen­ru­fe aus dem ande­ren Zim­mer. Bei­spiels­wei­se dann, wenn das Fern­seh­pro­gramm - wider Erwar­ten - doch ein­mal in der Lage war ihre Auf­merk­sam­keit tat­säch­lich zu 100% zu vereinnahmen.

Manch­mal hat­te er frü­her "Erde an Frau G - bit­te ant­wor­ten Sie!" oder "Alarm­stu­fe rot - Frau G ant­wor­tet nicht!" oder "Wir dan­ken Frau G, dass sie mit uns gespro­chen hat!" geru­fen. Auf die Dau­er war es aller­dings lächer­lich gewor­den sich dazu immer neue Vari­an­ten aus­zu­den­ken und sie ins Nach­bar­zim­mer zu rufen. Wenn es wich­tig war stand er auf und ging hin.

Er war also auf­ge­stan­den und in den Nach­bar­raum gegan­gen - nur um ihn völ­lig leer vor­zu­fin­den. Natür­lich nicht völ­lig leer, die Möbel stan­den da, der Hund lag auf sei­nem übli­chen Platz, der Fern­se­her lief, Frau Gs Ses­sel aller­dings war leer. Die Kis­sen rechts und links der Leh­ne, noch so arran­giert wie Frau G es gern hat­te: An die Sei­te gedrückt und ein wenig den Rücken unter­stüt­zend. Wie die farb­lich ange­paß­te Fleece­decke, einen Farb­ton dunk­ler als das Rot des Ses­sels, die noch ihre Kon­tu­ren aufwies.

Frau G war abwe­send. Er hat­te nicht wahr­ge­nom­men wie sie ver­schwun­den war. Sofern sie denn ver­schwun­den war und er es sich nicht nur ein­bil­de­te. Also mach­te W sich auf die Suche in der rest­li­chen Woh­nung. Irgend­wo muß­te sie ja sein, Ehe­frau­en ver­schwin­den nicht ein­fach so. Wenig­stens nicht in zivi­li­sier­ten Län­dern und mit­ten im Abend­pro­gramm des Fernsehens.

Sie war nicht in ihrem Schlaf­zim­mer, nicht in der Küche, wo gera­de die Spül­ma­schi­ne dabei war das Geschirr des Tages zu rei­ni­gen, damit es wie­der ein­ge­räumt, an sei­nen Platz geräumt wer­den konn­te. Die Wasch­ma­schi­ne und der Trock­ner stan­den ohne Akti­vi­tät, es sah auch nicht so aus als ob sie da etwas zum waschen oder trock­nen vor­be­rei­tet hätte. 

W mach­te sich auf zum Bad wo kürz­lich die Fächer­pal­me vom Bal­kon Zuflucht vor den ein­set­zen­den Nacht­frö­sten gefun­den hat­te. Bad begrünt. Mal sehen. Es war ein Ver­such. Eige­ne Über­le­gung, nicht aus der Abtei­lung "Rat­ge­ber" einer Wer­be­zei­tung oder "Schö­ner Gärt­nern". Ein Risi­ko, denn wer wuß­te schon ob sich eine Fächer­pal­me im Bad wohl­füh­len könn­te. 'Pie­seln unter Pal­men!' dach­te er ver­schmitzt und ein Lächeln mach­te sich auf sei­nem Gesicht breit.

Das Bad, an des­sen Tür er kurz geklopft hat­te und weil er kei­ne Ant­wort bekam sie öff­ne­te, war leer. Auf der Pal­me sah er eine klei­ne Spin­ne her­um­lau­fen. Na schön, Haupt­sa­che sie blieb dort, dach­te er, wenn sie näm­lich Frau G erschrecken wür­de wäre es um sie gesche­hen. Adieu Spinne!

Kei­ne Frau G weit und breit in der gan­zen Woh­nung. Herr W schau­te in die klei­ne Mes­sing­scha­le auf der Flur­ab­la­ge. Dort wur­den Frau Gs Schlüs­sel depo­niert wenn sie zu Hau­se ankam, noch bevor sie übli­cher­wei­se ihren Man­tel oder ihre Jacke aus­zog. Die Mes­sing­scha­le war leer, so wie zuvor Bad, Küche, Wohn- und Schlaf­zim­mer. Kein Schlüs­sel. Nur ein altes Bobon­pa­pier­chen, das es noch nicht in den Abfall geschafft hatte.

Aha, sie war dem­nach nicht von Ali­ens ent­führt wor­den, sie hat­te ihre Schlüs­sel dabei und war fort. Das aller­dings beru­hig­te ihn. Obwohl: Auch wie­der nicht. Denn obschon nach 40 Jah­ren Ehe man­ches unge­sagt blei­ben kann weil der ande­re sowie­so zu deu­ten weis was beab­sich­tigt ist, hat­ten sie Bei­de stets Abwe­sen­hei­ten ange­kün­digt und dazu oft den Grund dafür mit­ge­teilt. Min­de­stens war es kei­ne über­stürz­te, kopf­lo­se Flucht gewe­sen als sie ging.

W mach­te sich auf den Weg zurück in die Küche und dach­te dar­über nach ob er viel­leicht ein Klin­geln über­hört hat­te. Manch­mal war er - mit Kopf­hö­rern auf den Ohren um den Ton aus dem Com­pu­ter zu hören ohne dabei dem Fern­seh­ton von neben­an Kon­kur­renz zu machen - schon über­rascht Frau G am Tele­fon zu fin­den. Das Signal des ankom­men­den Anru­fes hat­te er zu Zei­ten nicht gehört, über­hört, weil er sich so auf das kon­zen­trier­te, was er gera­de im Com­pu­ter ansah.

Wäh­rend W mecha­nisch die Kaf­fee­ma­schi­ne vor­be­rei­te­te, Was­ser ein­goß, Kaf­fee­pul­ver abmaß und ein­schal­te­te, grü­bel­te er, was wohl Frau G so eilig hat­te fort­ge­hen las­sen. Ohne dass sie ihm Bescheid gesagt hat­te. Einen äuße­ren Anlaß konn­te man aus­schlie­ßen. Sonst hät­te der Hund ange­schla­gen. W nahm sich vor näch­stens bes­ser dar­auf zu ach­ten was neben­an vor­ging und ab und zu ein­mal nach­zu­se­hen. So ohne Grund, ein­fach nur um sicher zu gehen, dass Frau G noch da war.

Die Kaf­fee­ma­schi­ne gab son­der­bar röcheln­de, schnie­fen­de und spucken­de Töne von sich - ein Zei­chen, dass sie in Kür­ze mit der Zube­rei­tung fer­tig sein wür­de. Die­se Lau­te aus der Maschi­ne erin­ner­ten W immer an einen Kom­mi­li­to­nen im Grund­stu­di­um. Der trank Tee und sei­ne Schlucke waren immer von schlür­fen­den, schmat­zen­den und röcheln­den Tönen beglei­tet wor­den. W nahm ein Glas aus dem Schrank und gab etwas fri­sche Milch hin­ein. Das hat­te er schon als Stu­dent so gemacht. Es spar­te einen Löf­fel, den brauch­te man nicht zu spülen. 

Er ging in sein Arbeits­zim­mer und nahm einen - geräusch­lo­sen - Schluck Kaf­fee. Es war eine gute Wahl gewe­sen die Kaf­fee­sor­te zu wech­seln, dach­te er, die­ser war aro­ma­ti­scher und schmeck­te viel bes­ser. Fast so wie die spa­ni­sche Vari­an­te, die er jedes­mal mit nach Hau­se nahm, nach der Über­win­te­rung dort. Fair gehan­delt, dazu aro­ma­tisch und nicht bit­ter. Zwar war die­se Sor­te um zwei Euro teu­rer, aber das war ihm ein gutes Gewis­sen wert. 

Was hat­ten sie zuletzt bespro­chen, was könn­te einen Hin­weis geben wo sie geblie­ben war? Es wur­de W bewußt, dass Frau G wohl ein ähn­lich 'lee­res' Gefühl immer dann haben muß­te wie das, was er gera­de emp­fand. Immer dann, wenn er sich auf den Weg in den Süden mach­te und sie in Deutsch­land zurück blieb. Da konn­te sie lan­ge in der Woh­nung nach­se­hen, er war ja weg. Nein, schoß es ihm in den Sinn, so ganz genau gleich war das nicht, sie wuß­te ja wo er war. Schon des­we­gen, weil er fast täg­lich anrief und berichtete.

Als er in sein Zim­mer ging um sei­ne Schu­he anzu­zie­hen - er woll­te den Such­ra­di­us ver­grö­ßern und das konn­te nicht in Haus­schu­hen pas­sie­ren - hör­te er wie der Hund sich rap­pel­te und von sei­nem Plätz­chen her in sei­ne Rich­tung lief. Er beschloß den Hund mit­zu­neh­men. Es konn­te nicht scha­den, viel­leicht gab er drau­ßen einen Hin­weis wo W sich hin wen­den muß­te um Frau G zu fin­den. Geschirr umle­gen, rote Kot­beu­tel ein­stecken, ein Küchen­tuch in die Jacken­ta­sche und in die ande­re sei­nen Schlüs­sel­bund. Vor­sorg­lich griff er noch zu der klei­nen, run­den LED-Leuch­te. Es war ja schon dun­kel. Viel­leicht wür­de er eine Lam­pe brauchen.

Der Hund führ­te sei­ne übli­chen Freu­den­sprün­ge aus. Das mach­te er immer wenn es nach drau­ßen ging, seit er ganz klein war. So ein Hun­de­le­ben hat nicht gera­de viel Aben­teu­er und Abwechs­lung dach­te W. Es ist viel Rou­ti­ne und wenig Neu­es was da so täg­lich abläuft. Son­der­ba­rer­wei­se wur­den die Hun­de als "brav" bezeich­net die dull auf ihrem Platz ver­harr­ten. Dabei waren die doch eher die Lang­wei­ler. Ihr Hund war von Anbe­ginn von der wil­den Sor­te gewe­sen und alle Ver­su­che ihn zur Ruhe zu brin­gen waren nur von kurz­fri­sti­gem Erfolg gewe­sen. Es war eben ein Aus­bund, immer schnell auf 180, nie so rich­tig relaxed.

Drau­ßen vor der lan­gen Trep­pe nach unten pack­te W den Hund am Geschirr und klemm­te ihn unter den Arm. Die Trep­pe war für den Rücken des Tie­res zu lang und zu steil. Außer­dem hat­ten sie frü­her fast eben­erdig gewohnt und das war für das Tier nie ein Pro­blem gewe­sen. Am Fuß der Trep­pe setz­te er den Hund auf den Plat­ten­weg und hielt dabei die Lei­ne fest. Denn was folg­te war stets gleich: Der Hund wür­de los­stür­men, hin zu einem unbe­kann­ten Ziel. Das nur er kann­te. Er mach­te dann den Ein­druck es sei ganz drin­gend dort­hin - wo auch immer - hin­zu­kom­men. So, als ob es schon fast zu spät wäre.

W schau­te im Vor­bei­ge­hen zum Auto unter dem Car­port. Kei­ne Frau G beim Auto. Es hät­te ja sein kön­nen, dass sie etwas von dort hät­te holen wol­len. Manch­mal war das schon vor­ge­kom­men, nach eine län­ge­ren Rei­se wie der, die sie gera­de vor­ge­stern been­det hat­ten. Irgend­was bleibt immer im Auto lie­gen von all dem Klein­kram den man so meint für eine län­ge­re Abwe­sen­heit zu brauchen.

Wäh­rend er von der lan­gen Ein­fahrt hin­ten, ent­lang der Ost­fas­sa­de des Hau­ses, zur Stra­ße hin lief, warf er einen Blick in die Erd­ge­schoß­woh­nung die kürz­lich neu ver­mie­tet wor­den war. Der neue Mie­ter war ein allein­ste­hen­der Mann mitt­le­ren Alters. Wahr­schein­lich wie­der ein Fall von Tren­nung in der 'midlife'-Krise, das war die Zeit, in der vie­le Ehen in die Brü­che gin­gen. Dafür sprach - unter ande­rem - die recht spär­li­che Aus­stat­tung und Möblie­rung: ein Ses­sel, zwei Stüh­le, ein Tisch und eine kom­mo­den­ar­ti­ge, nied­ri­ge Anrich­te mit einem Fern­se­her dar­auf. Anson­sten vie­le halb offe­ne und noch mehr unge­öff­ne­te Kisten. Das wird dau­ern, dach­te W, es sieht nicht danach aus als ob hier bald 'Ord­nung' ein­keh­ren würde.

Der Hund hat­te an der Lei­ne gezo­gen, was W aus sei­nen Gedan­ken riß und er kon­zen­trier­te sich jetzt ganz auf den Gas­sigang. Fast hät­te er ver­ges­sen, das fiel ihm nach ein paar Metern ein, nach Frau G Aus­schau zu hal­ten. Es war ja der eigent­li­che Grund für sei­nen spä­ten Gang nach drau­ßen gewesen.
Der Hund wie­sel­te von rechts nach links und wie­der zurück, den Kopf ganz tief und die Nase fast auf dem Boden. Man konn­te erken­nen wenn er etwas Inter­es­san­tes auf­spür­te. Dann blieb er ste­hen, dreh­te sich um die­sen Punkt her­um - um schließ­lich, nach Hun­de­art, ein Zei­chen sei­ner Anwe­sen­heit zu hinterlassen. 

W folg­te dem Hund und schau­te blin­zelnd zum Nacht­him­mel hoch. Es war klar. Die Milch­stra­ße zog sich von Hori­zont zu Hori­zont. Begrenzt von den um die­se Jah­res­zeit bunt gefärb­ten Laub­wäl­dern, die sich in sanf­ter Linie par­al­lel rechts und links des Tales hin­zo­gen. Die wer­den noch da sein wenn ich schon ver­mo­dert oder sonst­wie ent­sorgt bin, über­leg­te W, und der Gedan­ke ver­droß ihn. 

Wer weiß, dach­te er, wenn es zu einer Kol­li­si­on mit einem Meteo­ri­ten oder einem Aus­bruch eines Super­vul­ka­nes käme wäre sowie­so für Alle auf dem Pla­ne­ten Schluß. Wenn irgend­ein Ver­rück­ter auf den berühm­ten 'Roten Knopf' drücken wür­de auch. Nicht nur die­se Vari­an­te, so vie­le men­schen­ge­mach­te Mög­lich­kei­ten für einen mehr oder weni­ger plötz­li­chen Unter­gang. Da hat­te der Pla­net schon ziem­lich lan­ge durch­ge­hal­ten und war jetzt, in den letz­ten 60 Jah­ren, zum ersten mal nicht allei­ne von natür­li­chen Kata­stro­phen bedroht. 

Ein Blick auf den Hund sag­te ihm: Durch­ge­bo­ge­ner Rücken, wie ein Kat­zen­buckel, Schwanz steil nach oben, da heißt es gleich die Kot­tü­te zücken und die Hin­ter­las­sen­schaf­ten auf­neh­men. Ein­ge­sackt und zuge­bun­den. W macht sich mit dem Hund auf den Weg zurück nach Hau­se, berg­auf, gemäch­lich. Immer noch ohne Frau G gefun­den zu haben.

Aus der näch­sten Sei­ten­stra­ße hört er Stim­men. Sel­ten um die­se spä­te Stun­de und er beschließt genau­er nach­zu­se­hen was da los ist. Eine Grup­pe von Leu­ten steht dis­ku­tie­rend und gesti­ku­lie­rend bei­ein­an­der. W schal­tet die Lam­pe an und leuch­tet in Rich­tung auf die Stim­men. Mit­ten unter den Unbe­kann­ten steht Frau G, gegen die eini­ge der Grup­pe Front machen, bedroh­lich, nach ihrer Stimm­la­ge zu beur­tei­len. W beschleu­nigt sei­ne Schrit­te, der Hund wird auf­ge­regt und fängt an zu bellen.

Als W sich der Grup­pe nähert lösen sich eini­ge jun­ge Män­ner her­aus und wen­den sich W zu. Einer prescht vor und baut sich vor ihm auf. Als er plötz­lich zuschla­gen will weicht W seit­lich aus - über sich selbst erstaunt, weil er sich mit über Sieb­zig noch so schnell bewe­gen kann - und hebt ein Bein um den Geg­ner mit einem har­ten Tritt ans Knie zu Fall zu brin­gen .... in die­sem Moment spürt er einen umklam­mern­den Griff von Hin­ten um sei­nen Hals. W bleibt die Luft weg, er hat das Gefühl zu ersticken und mit letz­tem Atem schreit er so laut er kann "Hiil­fe­ee, Hiiilfeeee!" 

W blin­zelt in hel­les Licht, bemerkt, dass Frau G ihn an der Schul­ter gepackt hat und schüt­telt. Dabei fragt sie besorgt: "Geht es dir nicht gut? Hast du 'was, 'was Schlech­tes geträumt?"
W setzt sich, schweiß­ge­ba­det, in sei­nem Bett auf und wird lang­sam wach ....

 

Kommentare

  1. Was für eine lan­ge Traum­se­quenz mit­samt Hil­fe­schrei! Gut, dass Ihre Frau sich bei Ihnen erkun­digt hat, sonst wür­den Sie womög­lich noch immer nach Ihrer Frau suchen auf der Traum­stra­ße, wo der Hund nach dem Weg schnüffelt.

    1. Was für eine schreck­li­che Vor­stel­lung das ist: Jah­re­lang in einem Traum gefan­gen zu sein und nicht aufzuwachen...!

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