Ein langes Leben bringt viele Erfahrungen mit sich - nicht alle sind angenehm. Glücklicherweise sind doch die positiven Erlebnisse unterm Strich für die meisten Menschen in der Überzahl.
Wir gehen zurück in das Jahr 1974.
Es herrschte Lehrermangel, insbesondere in den Naturwissenschaften. Da ich mir sowieso nicht im Klaren war ob ich weiter das Diplom in Biologie oder Lehramt Biologie|Chemie verfolgen sollte - diese Entscheidung musste nach dem gerade bestandenen Vordiplom getroffen werden - kam das Angebot an einem Gymnasium als Biologie- & Chemielehrer zu arbeiten gerade recht.
So begann ich nach den Sommerferien meine *Lehrerlaufbahn*, die insgesamt 18 Monate dauerte.
Alles war gut:
Die Kollegen freundlich und hilfsbereit, die Klassen 7 bis 9 zwar in schwierigem Alter, aber begeisterungsfähig und als die ersten lebenden Tiere in den Unterricht kamen kaum noch zu bremsen. Insbesondere der Abschnitt 'Spinnen' wurde zum Höhepunkt unterrichtlichen Schaffens. Da natürlich einige Spinnen - versehentlich oder absichtlich war nicht zu ermitteln - aus den Aufbewahrungsgefäßen in den Klassenraum entwischten. Was bei einem Teil der Schüler:innen zu mit lautstarken Schreckensrufen begleiteten Fluchtreaktionen führte .... und dann stand plötzlich der Direktor in der Tür um nach dem Rechten zu sehen!
Er wurde 'eingeweiht' und ich hatte den Eindruck, dass seine Verweildauer sich schon deswegen verkürzte, weil er keinem der ausgebüchsten Spinnentiere begegnen wollte.
Der unangenehme Teil war der Umgang mit dem Regierungspräsidium.
Das war für die Bezahlung zuständig. Mein Vertrag war einfach gestaltet: Zunächst auf ein Jahr befristet, fester Zahlbetrag jeweils zum 15. eines Monats; erste Zahlung für zwei Wochen am 15. des ersten Monat, danach jeweils ein voller Monatsbetrag. Urlaub gab es nicht - aber unterrichtsfreie Zeit immer dann, wenn das Gymnasium wegen Ferien geschlossen war und die Zahlung durchgehend, als ob ständig unterrichtet würde.
Als ich nach dem zweiten Zahltag, also nach eineinhalb Monaten, immer noch kein Geld auf dem Konto hatte rief ich bei der im Vertrag benannten Zahlstelle an, Aktenzeichen, Vertragsdatum und andere Unterlagen parat.
"Die Kollegin die das bearbeitet macht gerade Urlaub" säuselte die Dame am anderen Ende der Leitung als ich fertig war ihr zu erklären was mein Anliegen sei. Ich sagte sowas wie 'na, dann wird sie sich hoffentlich gut erholen' um dann fortzufahren 'wer vertritt sie denn?'
"Für die paar Tage bleibt halt 'mal etwas liegen", beschied mich die Kollegin und setzte nach "Sie werden ja bestimmt noch Reserven haben. Das dauert jetzt auch nicht mehr so lange und wenn die Kollegin aus dem Urlaub kommt geht es ganz fix!"
Ging es nicht.
Auch zur nächsten Auszahlungsrunde war ich nicht dabei - und schon war ich wieder am Telefon. Diesmal hatte ich die zuständige Sachbearbeiterin am Telefon.
"Ich kann ihre Akte nicht finden!" war die erste Äußerung als ich erklärt hatte warum ich anrief. Ich wies darauf hin, dass die Kollegin die Akte zu Rate gezogen hatte und ich *dem Amte daher bekannt* sein müsste. "Da werde ich mit der Kollegin sprechen und keine Sorge, hihi, wir werden Sie schon wiederfinden", es ertönte ein glockenhelles Lachen von Frau Peters in die Leitung und ich war bestimmt nicht in der Verfassung mit zu lachen. "Beim nächsten 'Zahlungslauf' sind Sie bestimmt dabei!" beendete sie das Gespräch.
Der nächste Zahltag war verstrichen, nach mittlerweile dreieinhalb Monaten war mein Konto leergefegt, der Dispo ausgereizt und die nette Dame bei der Sparkasse schaute mich sehr ungläubig an als ich ihr das Dilemma erläuterte. "Da müssen Sie selbst hingehen", sagte sie, "das wird nichts, wenn sie nicht dort vorsprechen!"
Nach einigem Suchen - die verschiedenen Dienststellen waren über mehrere historische Gebäude in Hannover verteilt - fand ich die bearbeitende Stelle und der Pförtner wollte mich nicht reinlassen. Als ich ihm die Geschichte erzählt hatte wurde er schon zugänglicher und erklärte "Dann will ich mal bei der Frau Peters¹ Bescheid geben, dass Sie hier sind und mit ihr sprechen wollen."
Er wählte, es klingelte, niemand ging dran. Er versucht das Nachbarbüro "Hören Sie", sagt er zu mir nachdem er mit jemandem gesprochen hatte der im Büro nebenan residierte, noch den Hörer in der Hand, "die Frau Peters ist krank geschrieben, die Kollegin weiß nicht, wann sie wieder kommen wird." Ich sage, schon in der Erwartung, dass es wieder eine blöde Antwort gibt 'dann fragen Sie doch bitte mal wer die Frau Peters vertritt' und er antwortet, nachdem er das an die Gesprächspartnerin weiter gegeben hat "Das steht noch nicht fest, der Herr Abteilungsleiter legt das bei der nächsten Dienstbesprechung fest. Wenn es länger dauert bis die Frau Peters wieder kommt. Ich schreibe Ihnen die Nummer auf wo sie nächste Woche anrufen können um zu erfahren wer das jetzt bearbeitet"
Die nette Dame bei der Sparkasse war jetzt nicht mehr nett und erklärte mir, dass nach drei Monaten ohne Zahlungseingang mein Dispo gestrichen wurde und ich nun etwas mehr für die Überziehung zahlen muss und außerdem sei jetzt *Ende der Fahnenstange* - kein Geld mehr vom Konto.
Mittlerweile hatte ich schon vier Monate gearbeitet. Gratis. Und allmählich wurde ich mehr als ungeduldig. Der Direktor, dem ich das Ganze vorgetragen hatte ließ mich wissen "Ach wissen Sie, da können wir von hier nichts machen, das liegt beim Regierungspräsidium und das ist eine ganz andere Behörde." Mein Anruf - die Nummer hatte ich vom Pförtner ja bekommen lief ins Leere: Eine freundliche Dame erklärte mir "Ich bin hier nur der Telefondienst wenn niemand unter der angegebenen Nummer antwortet - ich kann ihnen nicht weiter helfen. Versuchen Sie es doch morgen nochmal."
Der nächste Zahlungslauf ging vorbei.
Natürlich ohne Zahlung auf mein Konto. Mit dem Vermieter hatte ich gesprochen und er sagte "Wenn Sie nächsten Monat wieder nicht zahlen können muss ich Ihnen - so leid es mir tut - kündigen!"
Bedröppelt lief ich über den Gang im Gymnasium und begegnete dem Hausmeister, Herrn Galk², alter U-Boot-Fahrer. Einer der wenigen Überlebenden aus dieser Truppe, in der es nur eine Überlebensrate von knapp 10% gegeben hatte.
"Sie sehen aus als ob Sie Kummer haben", sprach er mich an. Ich erzählte ihm die Geschichte und er blickte mich mit einer Mischung von väterlicher Sorge und ungläubigem Staunen an "Da ist es wohl höchste Zeit, dass Ihnen jemand hilft! Was brauchen Sie denn so ungefähr?" Ich kalkulierte überschlägig und sagte 'Etwas mehr als vierhundert Mark müssten reichen - vorausgesetzt, das Regierungspräsidium zahlt nächsten Monat.'
"Kommen Sie heute Nachmittag zu mir nach Hause" antwortete er, "dann gebe ich Ihnen das Geld, und wenn Sie ihre Zahlung haben geben Sie es mir zurück!"
So lief es dann auch. Er gab mir fünfhundert Mark.
Aber: Beim nächsten Zahlungslauf war ich wieder nicht dabei.
Als ich erneut vor dem Pförtner stand und er mich zunächst nicht durchlassen wollte erkannte er wohl, dass das keine Option sein würde. Ich war wirklich wütend und nicht zu bremsen. Fast fünf Monate Gratisarbeit.
Ich war gerade vor der Bürotür da hörte ich drinnen das Telefon läuten, doch da war ich schon im Raum.
Drei Schreibtische in der Mitte zusammengeschoben, einer rechts, einer links und einer vor Kopf, die Dame saß mit dem Rücken zur Tür. Drei Aktenschränke an den Wänden veteilt. Einen Besuchersitzplatz gab es nicht. Man war wohl lieber unter sich und ohne Publikumsverkehr.
'Wer von Ihnen ist Frau Peters?' rief ich in den Raum.
Die Dame mit dem Rücken zur Tür stellte ein Joghurt auf den Tisch, wischte sich den Mund und sagte dann "Da links, das ist Frau Peters." Frau Peters ließ ihr Strickzeug sinken und schaute mich erwartungsvoll an während die Kollegin am rechten Schreibtisch ihr Buch beiseite legte und mich - ein wenig spitz und von oben herab - wissen ließ "Wir haben hier keinen Publikumsverkehr - schreiben Sie uns doch bitte was Sie für ein Anliegen haben!"
'Doch, antwortete ich, 'Sie haben gerade Publikumsverkehr von einem äußerst erbosten Teil ihres Publikums - und ich gehe hier nicht aus dem Raum wenn ich nicht einen Scheck oder eine Zahlungsanweisung oder Bargeld in der Hand habe, nachdem ich nun schon fünf Monate arbeite und noch keinen Pfennig Geld auf meinem Konto gesehen habe.'
Die Mitarbeiterin mit dem Rücken zur Tür verstaute ihr Joghurt in einem Schubfach, rückte ein wenig um die Ecke ihres Schreibtisches, und drehte sich so, dass sie mich sehen konnte. Sie sah etwas verschreckt aus.
Es wurde tatsächlich
- nach längerem & weiterem Hin-und-Her - eine Zahlungsanweisung ausgegeben ".. das machen wir nur ausnahmsweise! .." mit der ich sofort bei der im Hause befindlichen Kasse einen Vorschuss von drei (grob geschätzten) Nettobeträgen abholen konnte.
Im Rausgehen hörte ich noch die schnippische Mitarbeiterin von rechts sagen "Da hätte er doch bestimmt bei der Sparkasse einen Kredit bekommen können ... " ... wie es weiterging weiß ich nicht, da war ich schon fast am Ende des Ganges und auf dem Weg ins Erdgeschoss zur Kasse.
Herr Galk bekam als Erster sein Geld. Dann der Vermieter, den Rest zahlte ich bei der Sparkasse ein und ich hatte den Eindruck, da waren auch alle sehr viel freundlicher und schauten auch so - ganz anders als bei meinem letzten Besuch dort.
Was ich daraus gelernt habe sind zwei Dinge:
1. Wenn man wirklich Geld braucht ist die Sparkasse gar nicht mehr so freigiebig wie ihre Werbung es immer suggeriert."
2. Es gibt ganz wenige Menschen, die tatsächlich helfen, wenn sie auf die Frage "Wie geht es Ihnen?" erfahren, dass ihr Gegenüber wirklich Hilfe braucht.
¹ Name geändert
² Richtiger Name
*edit*
Demnächst habe ich noch eine 'jüngere' Geschichte, da geht es um die Rentenversicherung "Bund".
Zustände wie beim Job-Center, und das schon 1974...
Umsonst wurde nicht bei Asterix und Obelix "das Haus, was Verrückte macht" eingebaut.
Wären solche Geschichten nicht bei Von Schnitzler mit dem Holzhammer auf die Leute losgelassen worden und hätte es mehr solche nüchteren Erfahrungsberichte von "drüben" gegeben von ganz einfachen Leuten, dann wäre das wohl 1989 sehr anders verlaufen.
Vom Job-Center hätte ich selbst noch ein paar Geschichten, die sind so absurd, dass man an ihrer Echtheit zweifeln wird - demnächst 'mal ....
Immer 'raus damit!
Den Wahnsinn kann die Welt ruhig wissen...
@ matrimann
Gemach, gemach, es kommt!
Obwohl Anfang des Jahrtausends auch im öffentlichen Dienst die Zügel straffer gezogen wurden, erkennt man noch heute die alten Muster und Gepflogenheiten wieder, die Sie in Ihrem Erfahrungsbericht darstellen. Dazu die bedauernde Feststellung einer Ex-Kollegin: "Früher wurde viel mehr gefeiert." Aber das gilt wahrscheinlich für alle anderen Büros auch ... wie auch ganz besonders fürs Baugewerbe.
Es rollen immer mal wieder Wellen von Versuchen den Schlendrian auszumerzen durch die Amtsstuben .... doch die erweisen sich weitestgehend als resistent gegen Störungen ihrer 'Routine'.
Die beschriebenen Damen beim RP Hannover waren sehr erstaunt über manche Aspekte, die die Nicht-Zahlung meiner Bezüge zur Folge hatte:
Wie auch, kam doch ihre Bezahlung stets pünktlich einen Tag vor Ultimo aufs Konto. In ihren *Kreisen* gab (und gibt) es sowas wie *Geldsorgen* nicht.
"Ex-Kollegin" - sind Sie oder ist die Kollegin im Ruhestand?
Ich bin im - ursprünglich vorgezogenen, inzwischen aber regulären - Ruhestand (mit Rentenabschlag!), nachdem mein zeitlich befristeter Vertrag bei der Justiz ausgelaufen war und ich noch ein paar unschöne Monate mit dem Arbeitsamt zu kämpfen hatte (Zitat von dort: "Was, ein Auto haben Sie auch noch?").
Oho, zum Arbeitsamt habe ich eine tolle Story, da wird ihre Erinnerung Purzelbäume schlagen! Danke für diese weitere Motivation es nächstens 'mal aufzuschrei(b)en.
Nun werden wir (Rentner, Ruheständler) von interessierter Seite als "Gierschlunde" zum Feindbild für die jüngere Generation *aufgebaut* - so lenkt man trefflich von den Steuergaunern à la Höneß und 'CumEx' ab, die ihren Politbuddies immer reichlich gespendet haben, und so unter dem Schirm der Justiz blieben oder gar nicht erst angeklagt wurden. Oder wie Höneß, mit einem läppischen Klaps auf die Hand davon kamen.