.. Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun abends im Bette Gedanken machte und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: »Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren da wir für uns selbst nichts mehr haben?« »Weißt du was, Mann«, antwortete die Frau, »wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.« »Nein, Frau«, sagte der Mann, »das tue ich nicht; wie sollt ich's übers Herz bringen, meine Kinder im Walde allein zu lassen! Die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreißen.« »Oh, du Narr«, sagte sie, »dann müssen wir alle viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln«, und ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte .. "
[Quelle]
Wie sehr sich doch die Zeiten geändert haben seit die Gebrüder Grimm "Hänsel & Gretel" schrieben - haben sie sich tatsächlich so sehr geändert?
Kinder sind seltener geworden in unserer Gesellschaft, daher werden sie nicht als 'Last' oder 'zusätzliche Esser' gesehen. Was allerdings immer noch nicht bedeutet, dass sich ab einem bestimmten Alter diese Einstellung nicht wandelt.
Ich nenne es "Entsolidarisierung", also den Beginn eines Zeitraumes in dem Eltern ihre Kinder nicht mehr als Freude, sondern als Belastung empfinden.
Im Tierreich kennen wir die "Nestflüchter" und die "Nesthocker", erstere sind sofort nach ihrer Geburt völlig unabhängig und oft auch auf sich alleine gestellt. Die Elterntiere gehen ihrer Wege und kümmern sich nicht mehr um den Nachwuchs.
Weil wir selbst uns um unsere Nachkommenschaft bemühen - die offenbar zunehmend, wenn auch oft unfreiwillig "Nesthocker" sind und viele Jahre brauchen bis sie auf eigenen Füßen stehen - neigen wir dazu solche Tiere, die sich ähnlich verhalten, sich also um ihre Jungen kümmern, mehr zu mögen als die sogenannten "Rabeneltern". Was den Raben übrigens Unrecht tut.
Im englischen Sprachraum wird der Begriff "Affordability" verwendet, was übersetzt etwa "Bezahlbarkeit" bzw. "Erschwinglichkeit" bedeutet. Das hängt wahrscheinlich mit der besonderen angelsächsischen Neigung zusammen Alles zu quantifizieren, meßbar und vergleichbar machen zu wollen. Der Begriff wird im wesentlichen dahin verstanden, ob sich 'die Joneses von nebenan'① etwas mehr oder weniger leisten können als man selbst.
Da die weiterführenden Lehranstalten dort (z.B. U.S.A.; Kanada; England; Australien etc.) den Eltern erhebliche Kosten verursachen trifft der Terminus "Affordability" wahrhaftig zu. Denn es geht manches nur deswegen nicht, weil die Eltern es sich nicht leisten können. Obwohl ihre Kinder das Potential hätten. Eine besondere Ausprägung des Kapitalismus, die sich in den letzten Jahren ein wenig aufgeweicht hat, dann bedauerlicherweise die Absolventen mit einem Schuldenberg im Nacken auf Arbeitssuche entläßt.
Eine Variante zu alledem wird in Deutschland noch immer praktiziert, es ist das "Kostgeld" [eine ins Gegenteil der ursprprünglichen Bedeutung verkehrte Bezeichnung, siehe Wikipedia], das Eltern von ihren Kindern verlangen sobald diese über ein eigenes Einkommen verfügen und noch zu Hause wohnen. Es ist aus der Mode gekommen, wird von manchen Eltern aber noch verlangt und als völlig normal angesehen. Wahrscheinlich deswegen, weil sie es genau so selbst erlebt haben.
Nun ist es sehr unterschiedlich, was diese Eltern mit dem Kostgeld tun: Während es manche als Zuschlag zu ihrem Haushaltsbudget sehen, sparen es andere Menschen für ihre Kinder. Sie wollen auf diese Weise sicher sein, dass nicht im jugendlichen Überschwang Geld sinnlos verpraßt wird.
Wie gesagt, es ist nicht der Normalfall, denn meist werden Kinder bis sie das Haus verlassen hierzulande mit allem versorgt was sie brauchen, inklusive einer Ausbildung.
Davon völlig abgesetzt tritt ein weiteres, ganz unterschiedliches Problemfeld hinzu:
Die elterliche Unabhängigkeit, der Wunsch, trotz der Sorge um ihre Kinder, ein eigenes 'Privat'leben zu haben.
Je nach Alter und Typologie leben Eltern diese Wünsche ganz verschieden aus:
Während es manchen nur dann wohl ist wenn sie ihre Kinder um sich haben② müssen andere ihre Kinder zwar versorgt, aber möglichst weit weg wissen - und natülich gibt es zwischen diesen beiden Extremen alle denkbaren Varianten.
Nach meiner Beobachtung - und hier komme ich auf die eingangs beschriebene "Entsolidarisierung" zurück - sind diese Verhaltensweisen abhängig von drei Faktoren:
- Alter
- Bildungsstand
- Umfeld
(und zwar genau in dieser Reihenfolge)
Nehmen wir beispielsweise Frau S.(35) und Herrn H.(40). Frau S. hat einen heranwachsenden Sohn M. (14). Frau S. und Herr H. wollen über das Wochenende verreisen. Der Sohn bleibt zu Hause, hütet Wohnung und Hund.
Toll, denkt der Sohn, 'sturmfrei' das ganze Wochenende!
Während also Frau S. und Herr H. sich irgendwo verwöhnen & verwöhnen lassen geht zu Hause die Post ab .... M. lädt Kumpel & Kumpelinen zum Grillfest, die Musik dröhnt, es wird von Raum zu Raum getrampelt. Toll, der M. wünscht sich es könnte immer so bleiben.
Wirklich?
Betrachten wir das nochmal genauer:
Frau S. und Herr H. haben Spaß, die Nachbarn weniger. Während sich erstere amüsieren und sich um nichts kümmern müssen treibt zu Hause der M. sein Unwesen.
Ist ihm dabei wirklich so wohl wie es den Anschein hat?
Ich bezweifle das sehr.
Er ist allein, und das in einem Alter, in dem Jugendliche Orientierung und Anleitung brauchen. In dem sie einen sicheren Rückhalt haben müssen. Der M. hingegen teilt die Aufmerksamkeit seiner Mutter mit der für ihren 'Gefährten' H. - sie hat zwar die Verantwortung für den M., ist dem alters- und intellektbedingt keineswegs gewachsen.
"Entsolidarisierung" bei allen Beteiligten, eine traurige Geschichte, die doch anfangs so positiv aussah.
Hänsel & Gretel - von ihren Eltern verstoßen - haben es am Ende doch geschafft. Sie haben den Widrigkeiten getrotzt.
Aber das war ja ein Märchen ....
①
" .. Werbung und das Vorbild der Nachbarn schaffen immer neue Begierden. „Keeping up with the Joneses“, nennt man das in den USA: Die Jones von nebenan haben immer ein größeres Auto, ein schickeres Sofa, eine bessere Espresso-Maschine .. " [Quelle]
②
[Quelle]