Bei *twitter* hatte ich kürzlich ein Zitat➀ von J. B. Corbyn (Labour; GB; youtube-video) in der timeline das aus einem Gedicht von Percy Bysshe Shelley➁ stammt. Nachdem ich nun mehr von diesem außergewöhnlichen Menschen gelesen habe muß ich sagen:
Dass ich ihn bisher nicht kannte war ein Versäumnis!
Allerdings stehe ich da wohl nicht alleine auf weiter Flur und muß mich schämen - wie im nachfolgenden Zitat zu lesen ist:
» .. Welcher große Dichter der Neuzeit wäre in Deutschland so wenig gekannt wie Shelley? Wird seine Weltflüchtigkeit, sein exzentrischer Idealismus auch stets ein Hinderungsgrund sein, daß Shelley irgendwo oder irgendwann populär werde, so ist der Umstand doch betrübend, daß er, Englands größter Lyriker, der ideale Dichterphilosoph, der freigeistigste und kühnste aller Engländer, selbst den hochgebildeten deutschen Leserklassen fast ein Fremder ist. Die Hauptschuld an diesem auffallenden Mangel an Interesse für den großen Dichter trägt jedoch der Umstand, daß unsere Literaturforscher denselben dem Publikum zu wenig vermittelt haben. Shelley ist von diesen in hohem Grade vernachlässigt worden .. «
Für die Zeit der Entstehung (frühes 19. Jahrhundert, 1819) handelt es sich um ein sehr mutiges, gewagtes Gedicht. Schaut man den Lebenslauf des Dichters an, so wird klar, dass er mit "Autoritäten" seine Probleme hatte.
The Necessity of Atheism
Weil er sich von seinem Werk The Necessity of Atheism [Über die Notwendigkeit des Atheismus; First published in 1811; 1813 re-printed in an expanded version.] nicht lossagen wollte wurde er der Universität Oxford verwiesen.
Percy Bysshe Shelley ertrank kurz vor seinem 30 Geburtstag. Was er an Schriften und Gedichten hinterlassen hat steht in keinem Verhältnis zu seinem Alter - da gibt es viele Kunstschaffende und Philosophen die in doppelt so vielen Jahren nicht halb soviel geschaffen haben ....
Ein Zitat aus "Vorsicht Glosse! Ansichten eines Regenwurms":
» .. Shelley definierte sich selbst mit einer griechisch verfaßten Inschrift in einer Hütte in den Schweizer Alpen: „Ich bin Philanthrop, Demokrat und Atheist. Percy B. Shelley.“
Kein christlicher Demokrat also, und damit ist einer in diesem Lande auch heute noch erledigt, und wenn er ein Genie sein sollte. Erledigter als erledigt wäre aber, wer es wagte, das geheiligte Tabu Demokratie zum Gegenstand kritischer Erwägungen zu machen.
Das tat Shelley, als er schrieb:
„Ich will nicht den gesunden Menschenverstand dadurch beleidigen, daß ich auf der Lehre von der natürlichen Gleichheit der Menschen bestehe.“
Im selben Jahre, 1813, schrieb er an seinen Freund Hogg: „Vielleicht wirst Du sagen, daß mein Republikanismus stolz ist; er ist gewiß weit entfernt von der Bierkneipen-Demokratie und weiß, mit welchem Lächeln er die servilen Beifallskundgebungen des wankelmütigen Pöbels anzuhören hat.“ .. «
Wie sie unschwer erkennen, liebe Lesende, bin ich vom Denken & Werk des Percy Bysshe Shelley sehr angetan. Nachfolgend befasse ich mich nun mit seinen Aussagen in "The Necessity of Atheism". Einleitend erst ein weiteres Zitat, diesmal von Shelley, eine Art Grundsatzerklärung:
»God is an hypothesis, and, as such, stands in need of proof: the onus probandi rests on the theist.
[Percy Bysshe Shelley, 1810]
Im Folgenden unternehme ich den Versuch eine (sinngemäße) Übersetzung zu liefern, die stellenweise eine Vereinfachung bzw. Kürzung des Textes bedingt - ohne deren grundsätzliche Aussage zu verfälschen. Grundlage ist der Text unter diesem Link → https://en.wikisource.org/wiki/The_Necessity_of_Atheism_(Shelley), den ich interessierten Lesern, die über vertiefte Englischkenntnisse verfügen, zur Lektüre empfehlen möchte. Dort ist - gegenüber der hier geschriebenen verkürzten Fassung - der komplette Text zu finden.
Glaube, so stellt Shelley fest, ist eine Überzeugung, deren Stärke, wie bei allen Überzeugungen, direkt proportional von dem Grad der Beweisführung abhängt.
Den ersten Platz nehmen dabei die Sinne ein.
Den zweiten Platz nehmen selbst gewonnene Erfahrungen ein.
Den dritten Platz nehmen die mitgeteilten Erfahrungen Dritter ein, die in die eigene Erfahrung eingegangen sind.
Es kann keine Beweisführung akzeptiert werden die der Vernunft entgegen steht; Vernunft wiederum basiert auf der sinnlichen Wahrnehmung. Jeder Versuch einer Beweisführung für die Existenz Gottes kann und muß daher einer dieser drei Beweissäulen zugeordnet werden:
Jene, die behaupten mit ihren Sinnen Gott wahrgenommen zu haben, sind die wahrhaft "Überzeugten" - allerdings gibt es keine für Jedermann sichtbare Erscheinung die jemals beschrieben worden wäre. Der Gott den Theologen beschreiben war und bleibt "unsichtbar".
Es wird zweitens behauptet, Alles was ist sei undenkbar ohne einen Schöpfungsprozeß oder eine Existenz seit aller Ewigkeit. Auch das, was seit aller Ewigkeit existiert müsse einen Grund gehabt haben um existent zu werden.
Sofern dies auf das Universum angewandt werden soll muß ein Schöpfungsprozeß bewiesen werden. Dieser Entwurfsvorgang muß bewiesen werden bevor ein "Entwerfer" angenommen werden kann.
Aus unserer eigenen Existenz können wir eine irgendwie geartete Ursache für deren Entstehung annehmen. Diese schöpferische Kraft ist nicht erklärbar oder zu reproduzieren. Daraus allerdings herzuleiten es sei eine höhere, allwissende und unbegreifliche Macht am Werke führt nicht weiter, im Gegenteil, es führt zu einer noch unwahrscheinlicheren, unverständlichen Begründung.
Drittens gibt es "Zeugnisse". Deren Wahrhaftigkeit können wir aber nur glauben, wenn die Annahme zutreffend ist, dass diese Zeugen freiwillig und ohne Zwang (durch Androhung ewigen Leides oder Belohnung) diese Erscheinungen erlebt haben. Sollten daran Zweifel sein, so sind derartige Zeugnisse zu verwerfen. Nur diejenigen Personen die meinen das erlebt zu haben können es glauben - für Andere ist es kein Beweis und daher wertlos.
Nach Begutachtung dieser drei Säulen ergibt sich der Schluß, dass es für die Existenz eines kreativen Gottes keinerlei Beweise gibt. Wer also glaubt erliegt einem Trugschluß des eigenen Geistes. Wenn jemand demgegenüber nicht glaubt, so ist das keine bestrafenswerte Tat. Hingegen scheinen diejenigen, die glauben, gezwungen zu sein ihre Fehleinschätzung zu revidieren. Jeder denkende Geist muß daher anerkennen: Es gibt keinerlei Beweise für die Existenz eines Gottes.
[Weiter führt Shelley aus welche Gedankengänge sich anschließen können - und stellt schließlich fest, dass sie allesamt um den zentralen Punkt der Grenzen unseres (derzeitigen) Wissens kreisen. Nähme man einen Gott an, so seien die Fähigkeit zu Verstandesleistung, Philosophie, Rechtsempfinden, und Allem was den Menschen dazu bringt nach Tugend zu streben, hinfällig.]
Wenn wir unsere Vorstellungen von der Gottheit erklären wollen, müssen wir zugeben, daß der Mensch durch das Postulat "Gott" niemals die Ursache dessen, was er sah, erklären konnte; er hat diese Erklärung nur dann gebraucht, wenn ein Einfluß der natürlichen und bekannten Ursachen nicht mehr erkennbar war. Sobald Menschen am Ende ihres Wissens waren, oder wenn ihr Verstand den Ereignissen nicht mehr folgen konnte, kürzten sie die Schwierigkeit ab und beendeten Forschungen, indem Gott als letzte Ursache bezeichnet wurde. Das heißt, was jenseits aller Ursachen war, war dann "Gottes Werk". So wiesen Menschen aber, wenn sie wegen Faulheit (zu Denken) oder wenn sie an Grenzen ihres Wissens stießen, einer unbekannten Ursache eine vage Bezeichnung zu. Jedes Mal, wenn wir sagen, dass Gott der Urheber eines Phänomens ist, bedeutet das, dass wir nicht wissen, wie ein solches Phänomen mit Hilfe von Kräften oder Ursachen funktionieren konnte, die wir in der Natur kennen.
Wenn also Unfähigkeit natürliche Phänomene zu erklären zur Schaffung von Gott (Göttern) geführt hat, kann Erkenntnis (Erklärung dieser Tatsachen) umgekehrt zu ihrer Abschaffung beitragen.
Mit dieser Aussage möchte ich hier abschließen. Die weiteren Ausführungen bei Shelley befassen sich mit Überlieferung, der Rolle von Institutionen, der Abwägung des Aufwandes für Religion einerseits und Erkenntnis der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge andererseits.
Schließlich stellt Shelley die Frage:
".. If God wishes to be known, cherished, thanked, why does he not show himself under his favorable features to all these intelligent beings by whom he wishes to be loved and adored? .."
[Wenn Gott gekannt, geschätzt und bedankt werden will, warum zeigt er sich nicht mit all seinen Vorzügen den intelligenten Wesen gegenüber, von denen er geliebt und verehrt werden möchte?]
Das ist eine Frage die mir gefällt. Ich glaube(!) allerdings nicht, dass sie mir noch vor meinem Ableben beantwortet werden wird.
➀
Das Zitat aus diesem Gedicht war der letzte Absatz:
"Stand ye calm and resolute,
Like a forest close and mute,
With folded arms and looks which are
Weapons of unvanquished war.
And if then the tyrants dare,
Let them ride among you there;
Slash, and stab, and maim and hew;
What they like, that let them do.
With folded arms and steady eyes,
And little fear, and less surprise,
Look upon them as they slay,
Till their rage has died away:
Then they will return with shame,
To the place from which they came,
And the blood thus shed will speak
In hot blushes on their cheek:
Rise, like lions after slumber
In unvanquishable number!
Shake your chains to earth like dew
Which in sleep had fallen on you:
Ye are many — they are few!"
Übersetzung des letzten Absatzes
„Erhebt euch wie Löwen nach dem Schlummer
In unüberwindlicher Zahl –
Schüttelt eure Ketten ab wie Tau,
Der im Schlaf auf euch gefallen ist –
Ihr seid viele – sie sind wenige.“
➁
(* 04. August 1792 in Field Place, Sussex; † 08. Juli 1822 im Meer bei Viareggio in der italienischen Provinz Toskana; britischer Schriftsteller der englischen Romantik, Verfechter des Atheismus)