Alter sei, so las ich kürzlich, lediglich eine Frage der Einstellung:
"70 ist die neue 50"!
Wer solche Thesen aufstellt - beinahe hätte ich geschrieben: Wer solchen Unfug verzapft - kann nicht älter als höchstens Mitte Vierzig sein.
Ich erinnere mich noch genau an die Zeit als ich Fünfzig war. Verglichen mit dem, wie die Umstände heute, mit Siebzig, sind, sehe ich keinen Anlaß zu Jubel oder Euphorie anläßlich des Älterwerdens.
Klar, die Zeiten haben sich geändert. Vieles, was man früher mit Siebzig nie getan hätte ist heute völlig normal. Das sieht man schon, wenn man die Kleidung älterer Leute betrachtet. 'Beige' überwiegt, oft kombiniert - es läßt sich ja so gut kombinieren - mit freundlichen, hellen Farben.
Die Patentante meiner Mutter war, solange ich mich erinnern kann, 'zeitlos' gekleidet. Schwarzes bis dunkelgraues Kleid oder Rock mit etwas hellerer Bluse, darüber eine armlose Kittelschürze, um die Hüfte eine Arbeitsschürze, die Haare zu einem Knoten ("Dutt") mit Haarnadeln auf dem Hinterkopf befestigt.
Ihr Mann, mein Großonkel, hatte eine graue Hose, meliert, mit schwarzen Fäden durchzogen und Hosenträgern. Letztere waren am Ende mit je zwei Lederschlaufen versehen, die wiederum an passend platzierten Knöpfen im Hosenbund befestigt waren. Sein Hemd war kragenlos. Den Kragen knöpfte man nur an das Hemd wenn es quasi-offizielle oder feierliche Anlässe zu begehen hieß. Darüber trug er eine graue Strickweste, die hatte ihm seine Frau selbst gestrickt, so wie mehrere andere, gleichartige, aber verschieden grau gefärbte Westen ähnlichen Zuschnitts. Wieder zu besonderen Anlässen wurde ein Sakko aus dem Schrank geholt. Die Schultern abgebürstet um den Staub zu entfernen, der sich angesammelt hatte, weil das gute Stück so lange unbenutzt im Schrank geblieben war ....
Ja, es hat sich Vieles seit Mitte des letzten Jahrhunderts geändert, aber immer zum Besseren?
Verlust, Niedergang und Aussonderung - das sind die Stichworte die mit dem Altern einhergehen. Gut, da hat sich in den letzten Jahrzehnten so manches geändert, allerdings mehr an der Oberfläche, erzwungen von den so genannten "jungen Alten" (der Begriff ist übrigens eine Erfindung der Mainzer Karnevalisten, wer hätte das gedacht?)
Freunde und Bekannte sterben weg. Alter bedeutet zunehmende Reduzierung der Zahl von Personen, denen man vertraut. Besonders betroffen sind solche älteren Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - selbst keine Kinder haben. Gut, da gibt es Sonderfälle in denen Fremde näher stehen als eigene Kinder, die Regel ist es allerdings nicht.
Niedergang:
" .. Je älter die Leute sind desto klarer steht ihnen die Endlichkeit .. des Lebens vor Augen. Ein guter Grund das Schicksal nicht herauszufordern .. " schrieb ich vor einiger Zeit in einem Beitrag zum Autofahren älterer Personen.
Nichts bleibt wie es früher einmal war: Nachlassende Sehkraft, nachlassende Muskelkraft, nachlassende Reaktionsgeschwindigkeit - all das trägt zu einem erhöhten Risiko bei, das ältere Autofahrer nun einmal darstellen. Was allerdings stets vergessen wird sind die viel traurigeren (weil vermeidbaren) Risiken durch jüngere Fahrer: Alkohol, Selbstüberschätzung, überhöhtes Tempo, geringe Erfahrung in Extremsituationen. Die tatsächlichen Zahlen spiegeln lediglich die Tatsache wider, dass die Kompensation der Einschränkungen den Älteren besser gelingt als den Jüngeren sich in Zaum zu halten.
Die ärgsten Verlierer sind jene Alten, die wegen geistigen Abbaus in Pflegeeinrichtungen 'abgeschoben' werden. Glücklicherweise erkennen viele davon nicht mehr was man ihnen da antut. Wobei der Verlust an Selbstbestimmung sicher nur ein kleiner Teil des Elends ist.
"70 ist die neue 50"! - ich korrigiere meine Einschätzung im einleitenden Absatz:
Wer sowas behauptet kann höchstens Mitte Dreissig sein.
Zu diesem Thema ergänzende Artikel:
- "Alt - Älter - Uralt"
- "Leistungszwang vs. Altersleistung"
- "Ü70 - na und ..!? Keine Betrachtung zum "älter werden", sondern zum "älter sein"."
[Erstveröffentlichung: 01.06.2016 @ 02:21]