Die Frage ist unklar/uneindeutig formuliert, da es nicht ersichtlich ist was unter "Geschmacksnerven" verstanden werden soll. Einerseits können damit die Nervenbahnen in ihrer Gesamtheit gemeint sein, die 'Geschmack' von den Rezeptoren in Mundschleimhaut, Zunge und Rachen zum Gehirn leiten. Andererseits könnten damit die Rezeptoren selbst gemeint sein, deren Zahl größer oder kleiner ist, je nachdem wann man es (Lebensalter!) untersucht.
Weiter muss in diesem Fall festgelegt werden um welche Geschmacksqualität es sich handelt, denn zwischen den Zahlen von Rezeptoren für süß, sauer, salzig, bitter gibt es Unterschiede. Das sind die 'gesicherten' Wahrnehmungen.
Populärliteratur behauptet es gäbe außerdem ".. umami, also herzhaft ..", weiter heißt es ".. Eine neue Studie aber liefert nun den bislang stärksten Hinweis auf einen sechsten Sinn. Auf der menschlichen Zunge gibt es Knospen, die auf Fett reagieren. Manche Menschen scheinen besonders sensibel .." [Quelle] ¹
Eine Grundlagenzusammenfassung zum Geschmackssinn findet sich in dieser Dissertation (*.pdf); dort wird schwerpunktmäßig der ".. Geschmackssinn bei Kindern, insbesondere der die Entwicklung eines Schmecktests für Schulkinder zwischen fünf und sieben Jahren .." untersucht.
Auf die Behauptungen in Tertiärveröffentlichungen (Boulevard-/ Ratgeberpresse) werde ich später noch zurück kommen³ und klären, was davon zu halten ist.
".. Alle Zellen des Geschmackssinns, angefangen bei den Sinneszellen in der Zunge bis hin zu den Nervenzellen in der Großhirnrinde, reagieren auf mehrere Reizarten. Die Sensibilitäten für die einzelnen Stoffe scheinen jedoch unterschiedlich zu sein .." heißt es bei Lernhelfer, doch ist das keine besondere Leistung des Geschmackssinnes, sondern eine allgemeine Leistung des Nervensystems: Sie kennen sicher den Schmerz wenn man etwas Heißes angefasst hat - und genau so fühlt es sich an wenn man etwas sehr Kaltes für längere Zeit festhält - 'heiss' und 'kalt' sind also ein Frage der Dauer der Einwirkung, nicht unbedingt der tatsächlichen Temperatur (wobei die Folgen für das Gewebe selbstredend sehr unterschiedlich sein werden).
Gehen wir also zunächst einmal der Frage nach welche dieser beiden grundsätzlich verschiedenen Strukturen gemeint sind. Da bei Kindern bis zur Pubertät die Nervenbahnen noch nicht komplett sind, sondern mit dem Körper wachsen, kann das nicht der Teil sein, der gemeint ist. Sie sind bei Kindern kürzer und in der Masse kleiner, weswegen also die Geschmacksnerven des Mundes gemeint sein müssen.
".. Auf dem Zungenrücken, d.h. der Zungenoberfläche, befinden sich neben kleinen Erhebungen, den Papillen zur Tastempfindung auch solche zur Geschmackswahrnehmung. Man unterscheidet Blätterpapillen sowie pilzförmige und wallförmige Geschmackspapillen. In ihrem Inneren liegen die Geschmacksknospen. Sie ähneln in ihrer Form Tulpenknospen, daher auch der Name. Oben, im Bereich der Epitheloberfläche der Zunge, weisen die Geschmacksknospen ein kleines Grübchen mit einer Öffnung auf, den Geschmacksporus. In diesen ragen die Sinneszellen mit einem so genannten Geschmacksstiftchen hinein .." [Quelle]
Auch hier setzt die Überlegung zunächst an der Größe an: Weniger Gewebe deutet zunächst einmal auf weniger Sinneszellen hin. Doch stimmt das?
Erstens wird hier noch vernachlässigt, dass der Geruchssinn funktionieren muss um den Geschmackssinn voll zu aktivieren. - wenn die Nase verstopft ist schmeckt selbst das beste Essen nicht wirklich. Da das für Kinder und Erwachsene gleichartig im Ergebnis ist können wir es als Ursache für einen Unterschied vernachlässigen.
Zweitens steht nicht fest, welche der Geschmacksrichtungen in den Sinneszellen, die den Reiz aufnehmen, in welcher Zahl, d.h. in welchem Verhältnis zueinander und im Vergleich zum Erwachsenenalter denn tatsächlich zu finden sind.
Hier nähern wir uns nun dem Kern der Sache und müssen Daten, Studien und Beweise finden, um diese Frage zu klären.
".. Insgesamt nehmen Kinder Geschmäcker erst in viel höherer Konzentration wahr als Erwachsene. Eine europaweite Studie zum Essverhalten bei über 400 Kindern ergab, dass Dreijährige eine Zuckerlösung erst dann als süß empfinden, wenn sie 8,6 Gramm Zucker enthält. Diese Reizschwelle sinkt mit fortschreitendem Alter: 20-jährige Probanden schmeckten bereits rund zwei Gramm den Zucker heraus .." [Quelle]
Das klingt doch eher so, als ob Kinder weniger Geschmackszellen hätten oder diese, selbst wenn ihre Zahl absolut höher wäre eine geringere Empfindlichkeit haben und daher Kinder weniger gut schmecken als Erwachsene.
Nun soll man seine Wahrnehmung nicht von einer Quelle allein bestimmen lassen und wir machen uns auf die Suche nach weiteren Veröffentlichungen zum Thema.
Da werden wir fündig und lesen folgenden Text ".. Die Sinnesorgane sind zwar von Geburt an funktionstüchtig, doch die Wahrnehmung ist eine Sache der Übung. Sensorische Tests haben gezeigt, dass Kinder erst nach und nach feinere Unterschiede herausschmecken können und dass dies keine organischen Gründe hat .." [Quelle].
Diese Feststellung sagt also, es seien zwar bei Kindern alle anatomischen Voraussetzungen gleich, aber das Schmecken sei ein Lernvorgang, der erst entwickelt werden müsse. Das klingt zumindest für mich so, als ob Kinder nicht besser, sondern sogar schlechter schmecken können. Wir lesen in diesem Artikel - die Untersuchung wurde mit 400 Kindern zwischen drei und acht Jahren durchgeführt - folgende Zusammenfassung ".. Mit steigendem Alter zeigte sich in den Untersuchungen eine deutliche Abnahme der unteren Reizschwellen. Mit anderen Worten: Je älter des Kind/der Jugendliche, desto geringer fällt die Konzentration aus, bei der eine Lösung gerade noch als nicht geschmacksneutral empfunden wird. Diese so genannte Reizschwelle sank besonders zwischen dem achten Lebensjahr und dem Erwachsenenalter stark ab .." [Quelle]
Das zeigt sehr deutlich, wo die Unterschiede sind und wie sie beurteilt werden müssen:
Erwachsene haben zwar nicht mehr Geschmacks(-sinnes-)zellen, doch sie haben gelernt zu unterscheiden. Das ist es was Kindern noch fehlt: Erfahrung mit verschiedensten Geschmacksträgern die nicht die Qualität 'süß' repräsentieren, für die sie von Geburt an eine extrem hohe Empfindlichkeit ab einem bestimmten Mindestgehalt der Nahrung haben.
Andererseits gibt es Untersuchungen die zeigen, dass selbst in höherem Lebensalter noch Änderungen der Nahrungspräferenz für bestimmte Geschmacksrichtungen möglich sind. Nachgewiesen wurde es allerdings bisher nur für den Salzgehalt der Nahrung:
".. there's some scientific evidence to support this experience. Researchers have also investigated methods of modifying one's food preferences so more healthful foods will be more appealing. In general — and not unexpectedly — flavor and food preferences are more malleable when we're young (indeed, in utero), but as adults, we can still work on them .. Several studies have shown that people who manage to follow a low-sodium diet for several months wind up preferring lower concentrations of salt in their food. .." [Quelle].
Doch zurück zu der Frage ob Kinder mehr Geschmacks(-sinnes-)zellen haben.
".. wenn Ihr Kind ungefähr 5 Monate alt ist, sind die Geschmacksnerven Ihres Babys so weit entwickelt, dass es salzig erkennen und auch darauf reagieren kann .." [Quelle]
Im gleichen Beitrag heißt es wenig später ".. In diesem Zeitraum ist der Geschmackssinn Ihres Babys sehr ausgeprägt. Tatsächlich hat ein Neugeborenes eine weitere Streuung der Geschmacksnerven als ein Erwachsener. Die Geschmacksknospen sind im Mund, Rachen, auf der Zunge und auf seinen Mandeln zu finden ..". Diese Aussage mag dahingehend interpretiert werden, wie es eingangs postuliert wurde - jedoch: Es fehlen jegliche Beweise!³ Als AutorIn wird lediglich angegeben '.. Geschrieben für BabyCenter Deutschland ..' - zweifelsohne ist das weniger überzeugend als eine wissenschaftliche Quelle!
Damit komme ich auf die Dissertation zurück, die ich ganz oben bereits erwähnt habe.
Der Zweck dieser Untersuchung wird folgendermaßen beschrieben:
(S.03) ".. Ziel der Studie war es herauszufinden, ob gesunde Schulkinder im Alter zwischen fünf und sieben Jahren in der Lage sind, vier der fünf Grundgeschmacksqualitäten, nämlich salzig, sauer, süß und bitter sowie Wasser richtig zu erkennen und zu benennen und wie ihre Ergebnisse im Vergleich zu Erwachsenen ausfallen. Dabei interessierten uns nicht nur die Ergebnisse für die Testung im ganzen Mund, sondern auch die Frage, ob bei Kindern in diesem Alter eine regionale Testung auf der Zunge möglich und sinnvoll ist .."
Zur Anatomie und Physiologie wird ausgeführt (S.25):
".. Das heißt Kinder haben insgesamt mehr Geschmacksknospen als Erwachsene, was aber keine Rückschlüsse auf die Funktion zulässt. Die Innervation der Papillen und Knospen scheint bei Kindern noch nicht so gut ausgebildet zu sein wie beim Erwachsenen (Plattig, 1984 aus Guinard, 2001) .."
Das Fazit für den Vergleich lautet (S. 26):
".. Eine Studie aus Österreich kommt zu dem Ergebnis, dass nur 27,3% der zehn- bis dreizehnjährigen Schulkinder in der Lage sind alle der vier getesteten Geschmacksqualitäten (süß, bitter, salzig und sauer) zu erkennen und richtig zu benennen. 5,2% der Kinder erkannten drei von vier, 35,8% erkannten zwei von vier, 23,6% erkannten eine von vier und 8,1% erkannten keine der Geschmacksqualitäten. Im Vergleich hierzu lieferten Erwachsene bessere Ergebnisse. Über 70% der Erwachsenen erkannten alle Geschmacksqualitäten (Dürrschmidt et al., 2008 aus Traar, 2009) .."
Wegen der insgesamt vorgelegten Studienergebnisse und den Befunden aus dieser spezifischen Dissertation ziehe ich den Schluss, dass nicht nachgewiesen werden kann, dass Kinder besser schmecken können als Erwachsene, sondern umgekehrt Erwachsene besser schmecken können als Kinder.
¹ ".. Weitere Sensoren für Glutamat ("Umami") gelten als gesichert, möglicherweise gibt es auch spezielle Sensoren für Fette .." behauptet auch "Lernhelfer" - ohne jedoch, genau so wie der Spiegel, die Quellen zu nennen. Hat da eine Zeitschrift von der anderen abgeschrieben und kommt es so, dass sich dergleichen "Erkenntnisse" lediglich dadurch hervorheben, dass sie so oft wiederholt werden, dass der Eindruck entsteht sie seien tatsächlich Erkenntnisse der Wissenschaft?
²
Wenn so etwas als Titel eines Artikels dasteht habe ich große Bedenken was die Qualität des Inhalts dieser Veröffentlichung angeht. Im weiteren Verlauf des Textes wird jedoch der Eindruck abgeschwächt und durch wissenschaftlich angemessene Darlegung aufgehoben.
³ Aussagen ohne Beweise sind wissenschaftlich irrelevant. Werden zudem noch quantitativ mehr gegenteilige Quellen gefunden, so spricht das dafür, dass in der Populärliteratur eher Meinungen als Fakten verbreitet werden.
Weitere z.T. populärmediale Quellen die das dargelegte Fazit unterstützen:
→ Sinne-Special - Teil 4: Das Schmecken
→ Appetit auf Geschmack; Dipl. oec. troph. Lisa Vogel
→ Aus wissenschaftlicher Sicht umstritten: "orale(s) Mikrobiom" → Der wissenschaftliche Grund, warum viele Kinder keinen Brokkoli mögen